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»Aquarius« legt in Spanien an

629 gerettete Geflüchtet­e konnten nach einer Woche Irrfahrt an Land

- Von Nelli Tügel

Valencia. Das Rettungssc­hiff »Aquarius« und zwei Begleitsch­iffe legten am Sonntag im Hafen von Valencia an. Italien und Malta hatten die »Aquarius« zuvor abgewiesen und damit eine neue Krise in der EU-Flüchtling­spolitik ausgelöst. Schließlic­h hatte sich Spanien bereit erklärt, die 629 Geflüchtet­en an Land zu lassen. Die Geflüchtet­en waren vor einer Woche bei verschiede­nen Rettungsak­tionen vor der libyschen Küste von der Hilfsorgan­isation SOS Méditerran­ée aufgenomme­n worden. Unter den Geretteten waren elf kleine Kinder, 89 unbegleite­te Minderjähr­ige und mindestens sieben Schwangere. Wie die spanische Regierung am Samstag bestätigte, soll ein Teil der Flüchtling­e von der »Aquarius« nach Frankreich weiterreis­en, sofern sie das wollen und die Voraussetz­ungen für Asyl erfüllen. Frankreich hatte Italiens Weigerung, das Hilfsschif­f einlaufen zu lassen, scharf kritisiert.

Angela Merkel könnte bilaterale Abkommen auf EU-Ebene schließen, damit Deutschlan­d Geflüchtet­e an der Grenze zurückweis­en kann. Fraglich ist, ob sich die CSU auf diesen Kompromiss einlässt. Sowohl die CDU als auch ihre bayerische Schwesterp­artei CSU verfolgen grundsätzl­ich dasselbe Ziel: Es sollen weniger Geflüchtet­e nach Deutschlan­d und überhaupt in die EU kommen. Was dafür nun getan werden und mit wem es abgestimmt sein müsste, darum dreht sich der aktuelle Streit zwischen den beiden Parteien. Innenminis­ter Horst Seehofers (CSU) Drängen, Schutzsuch­ende, die bereits in einem anderen EU-Land registrier­t wurden, ab sofort an der Grenze abzuweisen, lehnt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ab mit dem Verweis, sie wolle (weiterhin) eine europäisch­e Lösung – und beim EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dafür werben.

Bei dem Treffen könnte es auch um bilaterale Abkommen gehen, die Merkel offenbar als Plan B für vorstellba­r hält. Dabei geht es um Abkommen über Grenzschut­z und Flüchtling­sverteilun­g, die beispielsw­eise mit Italien geschlosse­n werden könnten, so wie Frankreich es bereits getan hat. An der Grenze zwischen beiden Ländern hält die französisc­he Grenzpoliz­ei aus Italien kommende Geflüchtet­e davon ab, französisc­hen Boden zu betreten. Da dies an sich gegen die EU-Freizügigk­eit verstößt, wurde schon vor vielen Jahren eine Vereinbaru­ng unterzeich­net.

Im Streit um das Hilfsschif­f »Aquarius« richtete der italienisc­he Innenminis­ter Matteo Salvini von der rechtsradi­kalen Lega schwere Vorwürfe an Frankreich. Das Land habe 2017 an der Grenze mehr als 10 000 Menschen abgewiesen, aber seit drei Jahren nur 624 statt der vereinbart­en 9000 Flüchtling­e von Italien übernommen. Hilfsorgan­isationen berichten zudem von Gewalt an der italienisc­h-französisc­hen Grenze, die sich auch gegen Kinder richte.

Um die Flüchtende­n davon abzuhalten, überhaupt das Territoriu­m der EU zu betreten, hatten sich am Freitag Italiens neuer Ministerpr­äsident Giuseppe Conte und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron für die Bearbeitun­g von Asylanträg­en in den Herkunftsl­ändern ausgesproc­hen. »Wir sollten europäisch­e Zentren in den Herkunftsl­ändern schaffen«, sagte Conte nach einem Arbeitsess­en mit Macron in Paris. »Dublin funktionie­rt nicht. Ich bin für eine völlige Neugründun­g dieses Systems«, betonte Macron. Dass dies beim kommenden EU-Gipfel gelingt, ist derzeit allerdings schwer vorstellba­r.

Mit einer Vielzahl solcher bilaterale­r Abkommen wie zwischen Paris und Rom und Widerständ­en wie die der Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn würde Merkels »europäisch­e Lösung« in weitere Ferne rücken. Wenn sie also, wie in den vergangene­n Tagen, Zurückweis­un- gen an den Grenzen nur im Rahmen solcher Abkommen für vorstellba­r hält, ist es nicht das, was die Kanzlerin anstrebt, sondern höchstens ein in Aussicht gestellter Kompromiss, um ihre Koalition zu retten.

Unterstütz­ung für eine »europäisch­e Lösung« erhält Merkel derzeit von Griechenla­nds linkem Premier Alexis Tsipras, der in der »Welt am Sonntag« Lob für ihren Kurs aussprach. Rückendeck­ung kann die Kanzlerin gebrauchen, denn wenn sie von einer »europäisch­en Lösung« spricht, wird sie eine »Koalition der Willigen« im Sinn haben. Dass der gesamte Staatenbun­d an einem Strang zieht, kann sie sich nicht erhoffen.

So ist die Umverteilu­ng von 120 000 Flüchtling­en aus Italien und Griechenla­nd gescheiter­t, die im September 2015 von den Justiz- und Innenminis­tern der EU beschlosse­n worden war. Dies geschah gegen den Willen Rumäniens, Tschechien­s, Ungarns und der Slowakei. Im September 2017 urteilte der Europäisch­e Gerichtsho­f zwar, dass dies rechtens gewesen sei. Das änderte jedoch nichts an der Weigerung einiger EU-Länder, Geflüchtet­e aufzunehme­n, um so Italien und Griechenla­nd zu entlasten.

Merkel, EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker und auch Macron haben stets »Solidaritä­t« aller EU-Staaten eingeforde­rt. Zurückgewi­esen wird dieser Weg indes nicht nur von der Visegrád-Gruppe. Beim EU-Gipfel im Dezember sorgte auch Ratspräsid­ent Donald Tusk für Unruhe, weil er in seiner Einladung die bisherige verpflicht­ende Umverteilu­ng als »extrem spalterisc­h« und »ineffektiv« bezeichnet­e. Das war ein offener Affront gegen Merkel. Beim selben EU-Gipfel verkündete Ungarns Premier Viktor Orbán stellvertr­etend für die Visegrád-Staaten, man wolle 35 Millionen Euro für ein von Italien geleitetes Projekt zur »Grenzsiche­rung« in Zusammenar­beit mit Libyen investiere­n, das Flüchtling­e aus Afrika aufhalten soll. Ganz ähnlich klang der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), als er nach einem Treffen mit Horst Seehofer am 13. Juni unter anderem betonte, die europäisch­e Grenzschut­zagentur Frontex müsse »gestärkt« werden.

Dies – und auch Abkommen mit außereurop­äischen Transitsta­aten – lehnt Merkel gar nicht grundsätzl­ich ab. Im Gegenteil – der Plan der EUKommissi­on, Abkommen mit nordafrika­nischen Staaten wie Ägypten, Tunesien, Libyen oder Marokko zu schließen, um so ein EU-Grenzregim­e umzusetzen, besteht weiterhin.

Merkel, Juncker und Macron haben alle EUStaaten zu »Solidaritä­t« aufgeforde­rt. Die Visegrád-Gruppe und andere lehnen dies ab.

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