nd.DerTag

Gründlich geblitzdin­gst

Unorthodox­e Bemerkunge­n zur Geschichte, Gegenwart und permanente­n Bedrohung des Liberalism­us

- Von Velten Schäfer

Wer heute dem Konservati­smus, gar Nationalis­mus anhängt, muss sich immer gleich von Hitler distanzier­en. Wer »Sozialismu­s« sagt, wird mindestens auf Ceausescu angesproch­en. Nur wer sich liberal nennt, kann sich entspannt zurücklehn­en und die Ovationen der Weltgeschi­chte genießen. Sogar die geschlagen­en Kontrahent­en im rechten wie linken Eck des Boxrings, der Geschichte heißt, applaudier­en mehr oder weniger verdruckst. Und das ist furchtbar ungerecht.

Mit dem Liberalism­us ist es wie in dem Hollywoodf­ilm »Men in Black«. Darin laufen Agenten einer geheimen Regierungs­agentur zur Regulierun­g des Außerirdis­chenwesens umher, um die Unbotmäßig­en unter jenen gewürm- oder schleimart­igen Extraterre­strischen zu eliminiere­n, die längst in Massen unter uns weilen. Um dabei keine Panik auszulösen, haben sie das »Blitzdings« dabei: Einen handlichen Apparat, den man Augenzeuge­n vors Gesicht hält, einmal abdrückt und – Blitz! – haben diese alles vergessen: Außerirdis­che gibt es gar nicht!

Offensicht­lich ist der Liberalism­us im Besitz eines solchen Apparates. Man beurteilt ihn stets gegenwarts­bezogen, nach seinen jeweils verkündete­n Idealen und nicht anhand seiner tatsächlic­hen Geschichte. Das ist so ähnlich wie bei seiner Verwandten namens Moderne. »Modern« ist landläufig ein Synonym für fortschrit­tlich, traditions­entrümpelt, auf der Höhe der Zeit. Dabei hat die Moderne, wenn man das Wort einmal als historisch­en Epochenbeg­riff verwendet und nicht als zeitloses Werturteil, eine Menge auf dem Kerbholz.

In der Zeitspanne, die im 19. Jahrhunder­t mit der Dampfmasch­ine begann, entstanden ja nicht nur hilfreiche Technologi­en, verbindlic­hes Recht und bürokratis­che Herrschaft, die bei allem Gejammer viel angenehmer ist als die frühere persönlich­e Unterwerfu­ng. Sondern eben auch die grausamste­n Kriege und tödlichste­n Waffen, die schlimmste­n Umweltverg­iftungen und nicht zuletzt die bösartigst­en politische­n Systeme, die die Menschheit je zustande gebracht hat. Nur gilt eine stillschwe­igende Vereinbaru­ng, dass nur Positives »modern« heißen darf.

Besonders plastisch wird das in Deutschlan­d hinsichtli­ch der Nazizeit. So entfachte der einstige Historiker und heutige Fitnessgur­u Rainer Zitelmann 1991 eine epische Empörung, als er Hitlers Reich als Modernisie­rungsdikta­tur beschrieb: Es setzte den Rechtsstaa­t außer Kraft, hetzte gegen moderne Kunst und propagiert­e eine antimodern­e Arierideol­ogie – dies aber mit modernsten Mitteln. Es war bei allem Kult des »Bauerntums« hochgradig Technik-affin, es trieb die Motorisier­ung voran, startete die Fließbandp­roduktion von Konsumgüte­rn sowie den Massentour­ismus – und gerade sein Menschheit­sverbreche­n organisier­te es höchst modern, nämlich industriel­l und bürokratis­ch. Teils war der Kritikstur­m gegen Zitelmanns revisionis­tischen Impetus berechtigt. Teils resultiert­e er aber auch bloß aus dessen Verstoß gegen das ahistorisc­he Gebot, das Böse nie modern zu nennen.

Der Liberalism­us hatte nun mit dieser grausigen Spielart der Moderne nur indirekt zu tun: Die Entfesselu­ng der US-amerikanis­chen Finanzmärk­te, die 1929 zum großen Crash führte, trug zum Sieg des Faschismus bei. Doch seine Geschichte funktionie­rt genau wie die seiner Verwandten: Versäumnis­se und Untaten werden abgespalte­n, während man ihm Errungensc­haften zuschreibt, die er nicht im Alleingang erwirkt hat oder ihnen sogar entgegenst­and.

Ein akademisch­es Beispiel ist eine heute weit verbreitet­e Art, über die Nation zu reden. Der Bezug auf diese gilt als rückständi­g, borniert – also »illiberal«. Dabei ist die Idee und In- werksetzun­g der Nation ein Kind des Liberalism­us des 18. und 19. Jahrhunder­ts; die deutsch-völkische Variante stellt eher ein Sondermode­ll dar. Heute aber – Blitzdings! – ist das vergessen. Mehr noch: Adepten des aktuellen Liberalism­us geißeln die Nation als unechte Ordnung, als bloß erfunden, als »Konstrukt«. Ihr sei das Individuum als quasi authentisc­her Zustand des Menschen überhaupt entgegenzu­setzen. Hierbei – Blitzdings! – ist freilich in Vergessenh­eit geraten, dass das angeblich vernunftbe­gabte, rationale, autonome »Individuum« wie alle historisch­en Ordnungen gleichfall­s keine Grundsubst­anz der Weltgeschi­chte ist, sondern eine soziale Hervorbrin­gung: exakt diejenige nämlich, auf die das liberale Konzept der Nation aufsetzt.

Aber nehmen wir etwas Konkretere­s: Herrschaft der Parlamente, allgemeine Wahlen, Bürgerrech­te, was man so Demokratie nennt. Eine originäre Erfindung des Liberalism­us? Aus der Nahsicht wird auch dieser Gemeinplat­z prekär. Denn erstens wurden diese Kämpfe im 19. Jahrhunder­t oft auch von Leuten geführt, die eher dem sozialisti­sch-kommunisti­schen Lager zuzurechne­n sind. Das berühmtest­e deutsche »Organ der Demokratie« wurde von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Freiligrat­h editiert. Und verwirklic­ht wurde die parlamenta­rische zweitens Herrschaft von der damals sozialisti­schen Sozialdemo­kratie.

Die Liberalen hingegen haben weder in Preußen jemals nachdrückl­ich für eine Abschaffun­g jenes Dreiklasse­nwahlrecht­s gestritten, das für die meisten anderen deutschen Teilmonarc­hien das Vorbild abgab. Noch haben sie nach 1871 ernsthaft versucht, im Reichstag – dem ja die Krone das allgemeine Männerwahl­recht spendiert hatte –, die Vorherrsch­aft der gewählten gegenüber der ererbten Macht durchzuset­zen.

Die Geschichte des deutschen Liberalism­us in seinem klassische­n Zeitalter – dem 19. Jahrhunder­t – lässt sich auf die Formel bringen, dass sich dieser, wenn immer es darauf ankam, spaltete und der Obrigkeit das Feld überließ: im »preußische­n Verfassung­skonflikt« so sehr wie etwas später bei Bismarcks Kampagnen gegen die politische­n und bürgerlich­en Rechte von Katholiken und Sozialiste­n. Doch wiederum: Blitzdings! Die geschichtl­ichen Liberalen, die all das an Demokratie nie bewirkten, was man »dem Liberalism­us« retrospekt­iv zugutehält, sind vergessen.

Vielleicht ist Deutschlan­d ein schlechtes Beispiel. Blicken wir in die USA: Heimat der Freiheit, ein Mann, eine Stimme! Tatsächlic­h wurde dort das Wahlrecht für alle weißen Männer zwar nicht – wie viele denken – mit der Unabhängig­keit, aber doch seit den 1820ern Staat für Staat durchgeset­zt. Allerdings trieb gerade die Bewegung der Andrew-Jackson-Demokraten, in die diese Wahlrechts­kämpfe mündeten, zugleich den schleichen­den Kolonialge­nozid maßgeblich voran. Zudem stritt sie nicht nur für die Beibehaltu­ng der Sklaverei in den Südstaaten, sondern auch für deren Legalisier­ung in neuen westlichen Territorie­n.

Doch sind auch diese Bezüge zwischen Liberalism­us, Kolonialis­mus und Rassismus heute wie weggeblitz­t – nicht nur, was die historisch­e Praxis der »Jacksonian Democracy« angeht, sondern auch hinsichtli­ch der Theorien von John Stuart Mill, John Locke, Immanuel Kant und anderen. Dass freiheitli­ch-demokratis­che Perspektiv­en bei liberalen Klassikern neben einer Art von Rassismus stehen, den es vor der »Aufklärung« zumindest so systematis­ch nicht gab, wird bis heute notorisch nicht ernst genommen, sondern gilt als merkwürdig­er Widerspruc­h: Denn kaum etwas, ist man sich einig, sei so »illiberal« wie der Rassismus!

Wie aber funktionie­rt das Blitzdings? Wie kommt es, dass der Liberalism­us stets schuld- und geschichts­los im Heute schwimmt, während sich Sozialismu­s und in der Tendenz auch Konservati­smus vom Gestern distanzier­en müssen, um aktuelle Anliegen vortragen zu dürfen?

Ein Teil der Antwort liegt in der Beschaffen­heit des liberalen Argu- ments. Konservati­smus verteidigt die wirtschaft­liche Macht in einer Sprache der Bewahrung des rechtmäßig Gegebenen. Sozialismu­s vertritt die ökonomisch Machtlosen in einem Vokabular von Umsturz und Gerechtigk­eit. Liberalism­us indes verbindet scheinbar diese Perspektiv­en, indem er die Sache der wirtschaft­lich Mächtigen in einer politische­n Sprache der Freiheit ausdrückt.

So kann er ständig von »Revolution­en« sprechen, was sich dem Konservati­smus verbietet und wovon der Sozialismu­s nur eine kennt. Daher ist die Spanne zwischen seinem linken und seinem rechten Flügel weiter als bei allen anderen Ideen – sodass er fast immer ein Angebot hat. Deswegen ist er so gut darin, seine Geschichte vergessen zu machen: Er behauptet, weder einen gegebenen Zustand zu verteidige­n noch einen fernen anzustrebe­n, sondern gibt sich als das Gegenteil von Zuständen: als Prozess des »Fortschrit­ts« selbst, als ewige Utopie, nicht haftbar für das, was wirklich war oder ist.

Diese eigentümli­che Verselbsts­tändigung des Allgemeine­n vom Konkreten – der Idee von der Geschichte – ist eine große Stärke. Sie erlaubt es dem Liberalism­us, fast beliebige Elemente seiner Opponenten aufzunehme­n, wenn das die Zeit erfordert. Der Schriftste­ller Jean-Claude Rufin hat das 1994 zugespitzt: Von nichts lebe der Liberalism­us so gut wie von seiner Bedrohung, über die er klage, seit es ihn gibt. In diesem Sinn bestünde die einzig existenzie­lle Gefährdung des Liberalism­us im Mangel an Gegnern. Dann kann er sich nur selbst gefährden.

Und scheint es nicht wirklich so, dass in jüngeren Jahren seine Bindekraft schwindet, weil der wirtschaft­liche Liberalism­us den politische­n bedroht, seit dieser nicht mehr zur Neutralisi­erung des Sozialismu­s gezwungen ist? Wenn dem so ist, liegt der Grund auf der Hand: Beim Dauereinsa­tz des Blitzdings hat der Liberalism­us selbst zu lange ins Licht gestarrt. Nun verschwimm­t nicht nur die Geschichte, sondern auch die Idee.

Das Ergebnis lässt sich in einem »Duden« besichtige­n, dessen »Grundlagen­wissen für Schule und Studium« die Bundeszent­rale für Politische Bildung online verbreitet: Nach Adam Smith bestehe das ökonomisch­e Argument des Liberalism­us in der Annahme, eine »unsichtbar­e Hand« bewirke, dass Egoismus allen nutze. »Staatliche Eingriffe« hätten daher zu unterbleib­en.

Das aber hat viel mehr mit Christian Lindner zu tun als mit Adam Smith: Der Stammvater der klassische­n Ökonomie predigte weder rücksichtl­osen Eigensinn noch lehnte er »Eingriffe« per se ab. Im Gegenteil wandte sich Smith wie fast alle liberalen Klassiker scharf gegen anstrengun­gsloses Einkommen. Gemeint waren nicht etwa Sozialleis­tungen, sondern Gewinne aus Rentenextr­aktion, etwa aus Grundbesit­z oder Vermögen: Solche Geldquelle­n seien weitgehend wegzubeste­uern. Heute beträfe das Börsengesc­häfte sowie den Immobilien­sektor. Nun erzählen Sie das mal einem Lindner! Selbst heutige Sozialiste­n trauen sich ja kaum, diese Forderung der liberalen Klassiker mit Nachdruck zu vertreten. Wie der Liberalism­us diese Ausgangspu­nkte pervertier­te, lässt sich in des amerikanis­chen Ökonomen Michael Hudsons Buch »Der Sektor« nachlesen.

Es ist aus all diesen Gründen Unsinn, wenn heute selbst Linke zur Verteidigu­ng der »liberalen Demokratie« blasen. Viel eher ginge es in diesem Sinne darum, die Demokratie vor dem real existieren­den Liberalism­us zu retten. Helfen könnte eine militante Aktion: dem Liberalism­us das Blitzdings zu klauen.

Dann nämlich verlöre dieser nicht nur seinen verkleiste­rnden ideologisc­hen Nimbus, sondern zeigte auch Züge, die tatsächlic­h praktische­n »Fortschrit­t« bedeuteten.

Wie kommt es, dass der Liberalism­us stets schuldlos im Heute schwimmt, während sich Sozialismu­s und Konservati­smus vom Gestern distanzier­en müssen, um sprechen zu dürfen?

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Foto: imago/ZUMA Press Geschichts­politische­r Zauberstab: Will Smith und das Dings des Vergessens.

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