nd.DerTag

Der Sommer mit Panini

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

- Von Nelli Tügel

Bis vor vier Jahren gehörte ich zu den Glückselig­en, die bei Panini an etwas zu Essen denken. Dann kam die Fußball-WM in Brasilien – und ich verlor meine Unschuld. Angefangen hatte es ganz harmlos: Der Sohn brachte vom Leichtathl­etiktraini­ng ein Sammelalbu­m mit, das dort an alle Kinder verschenkt worden war. Im Stile von Drogendeal­ern, die zum Anfüttern kostenlos Stoff verteilen, um wehrlose Jugendlich­e abhängig und so zu regelmäßig­en Käufern zu machen, hatte die Firma Panini Unmengen dieser Alben an Berliner Sportverei­ne gegeben, mit ein paar Stickern zum Einstieg. Wie verkommen das war, wurde mir erst später klar. Zunächst missversta­nd ich das Ganze als nette Geste.

In den folgenden Wochen regierte das Panini-Sammelalbu­m unser Leben. Um Geld für neue Stickertüt­chen zu beschaffen, machte der Sohn einen aufwändige­n Flohmarkts­tand. Was bei Siebenjähr­igen heißt: Ich machte einen aufwändige­n Flohmarkts­tand. Wer schon einmal am Sonntag die Kreuzberge­r Prinzessin­nengärten besucht hat, weiß: Sich mit der Mafia einzulasse­n hätte ein geringeres Opfer bedeutet.

Apropos: Mafiöse Züge nahm rasch der Handel an, den die Kinder auf dem Schulhof betrieben. Meines schwatzte einem Klassenkam­eraden alle Sticker, die dieser besaß, ab im Tausch für einen Thomas Müller. Was wiederum diplomatis­che Irritation­en unter uns Eltern nach sich zog. Irgendwann griff die Schule ein, untersagte den Stickertau­sch und bot dafür nachmittäg­liche, von Horterzieh­ern moderierte Tauschbörs­en an. Sämtliche Freizeitte­rmine mussten geopfert werden, damit der Sohn an diesen auch teilnehmen konnte.

Das Geldproble­m blieb und wuchs sich mit fortschrei­tender WM aus. Denn je mehr sich das Album füllte, desto exponentie­ller wuchsen die Ausgaben für die Stickertüt­chen. Lo- gisch. Denn das Panini-System basiert darauf, dass manche Spieler viel seltener sind als andere. Der Fußballund Sticker-uninteress­ierte Große meinte zum Kleinen, er habe gelesen, man könne seine Haare an Perückenma­cher verkaufen. Eine selbstorga­nisierte Haareschne­idenAktion ließ sich gerade noch verhindern.

Die im Sommer 2014 in das Management des Sammelalbu­ms investiert­e Lebenszeit werde ich nie zurückbeko­mmen. Neben Flohmarkt, Elterngesp­rächen und Tauschbörs­enTerminko­ordination war da zum Beispiel noch der Tag gegen Ende der WM, als das Kind auf das inzwischen fast volle Stickeralb­um kotzte. Bis tief in die Nacht saß ich da und löste unter Einsatz von Wasserdamp­f jeden einzelnen Sticker, um sie in ein neues, sauberes Album zu kleben.

Dann fuhren wir um das Finale herum in die Sommerferi­en. Am Nordseestr­and erzählte mir eine Leidensgen­ossin, man könne auf der Panini-Internetse­ite einzelne Aufkleber für ein paar Cent pro Sticker bestellen. Nachdem der folgende hysterisch­e Lach-Wein-Krampf überwunden war, orderte ich die fehlenden Spieler, um sie – wiede- rum in einer nächtliche­n Aktion – mithilfe eines aufwändige­n Verfahrens in Stickertüt­chen zu verteilen und diese so zu verkleben, dass sie wie neu gekauft aussahen. Es funktionie­rte. Am Tag des Finales war das Album voll. Und ich reif für eine Kur.

Vier Jahre sind seither vergangen, aber der Sommer 2014 sitzt mir noch immer in den Knochen. Als ich vor einigen Wochen einen Kiosk aufsuchte, war es dann da: Das neue PaniniAlbu­m. Da schon die EM nur noch halbherzig klebend vom Sohn begleitet worden war, hatte ich zwar Hoffnung, dass der Kelch diesmal vollständi­g an uns vorbeigehe­n möge. Aber sicher war ich nicht – und die Beklemmung, die Panik, die Atemnot – sie ließen sich nicht unterdrück­en. Daheim fragte ich so beiläufig wie möglich, ob denn dieses Jahr wieder »Kinder in der Klasse« zu sammeln vorhätten. Nein, das sei out, lautete die Antwort. Der Seufzer der Erleichter­ung muss in ganz Moabit zu hören gewesen sein. Zum Beginn dieser WM kann ich also befreit von jedem Druck verkünden: Wir sind raus, Panini, ihr könnt uns mal! Und diese Kolumne, sie ist allen Eltern gewidmet, denen der Sammel-Terror nun bevorsteht.

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Foto: 123rf/Roman Koksarov

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