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Rekord der Schande

Flüchtling­szahlen steigen zum fünften Mal in Folge auf neuen Höchststan­d

- Von Stefan Otto

Berlin. Ist die Menschheit lernfähig? Kann die Antwort anders lauten als: nein, no, non, njet, nee ...? Im Jahr 2018 zumindest kann sie es nicht. Zum fünften Mal in Folge hat die Zahl der Flüchtling­e eine neue Rekordmark­e erreicht. Laut UNHCR, dem Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen, waren im vorigen Jahr rund 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht, gut drei Millionen mehr als noch 2016. Angeheizt werden die Fluchtbewe­gungen weiterhin durch Bürgerkrie­ge und bewaffnete Konflikte. Die meisten Menschen flohen aus Syrien, Afghanista­n, Südsudan, Myanmar und Somalia. Sie fanden nicht etwa Aufnahme in westlichen Staaten, sondern in Nachbarlän­dern – das waren nach Angaben des UNHCR die Türkei (3,5 Millionen), Pakistan (1,4 Millionen), Uganda (1,4 Millionen), Libanon (998 000) und Iran (979 000). »Es bleibt weiter eine Krise der armen Welt«, so der UN-Hochkommis­sar für Flüchtling­e, Filippo Grandi. Der größte Teil der Flüchtling­e, nämlich etwa 40 Millionen, bleibt dabei in den Krisenländ­ern selbst.

Anders als bei den Flüchtling­szahlen kann von einem Rekordnive­au bei der Fluchtursa­chenbekämp­fung derweil wohl kaum die Rede sein. Sevim Dagdelen, stellvertr­etende Vorsitzend­e der Linksfrakt­ion, fordert deshalb ein Umsteuern, gerade in Deutschlan­d. »Statt eines Masterplan­s für Flüchtling­sabwehr an der bayerische­n Grenze braucht es einen Masterplan für Fluchtursa­chenbekämp­fung weltweit«, sagte sie. Die Bundesregi­erung stehe angesichts eines Waffenexpo­rtrekordes – von 2014 bis 2017 wurden Waffen im Wert von 25,1 Milliarden Euro ausgeliefe­rt – in der Verantwort­ung. »Deutsche Rüstungsko­nzerne, auch und gerade die in Bayern, gehören zu den Hauptprofi­teuren von Waffenexpo­rten in alle Welt und schaffen immer neue Fluchtursa­chen. Notwendig ist ein gesetzlich­es Verbot der Rüstungsex­porte«, so Dagdelen weiter.

Binnen zwei Wochen will Kanzlerin Merkel eine europäisch­e Asylpoliti­k voranbring­en. Das dürfte schwer werden. Schließlic­h streiten die EUStaaten schon seit Jahren über die Aufnahme von Flüchtling­en. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) steht im Asylstreit mit Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) unter Druck, das ist klar. Ein Ultimatum, heißt es, habe Seehofer ihr gesetzt. Binnen zwei Wochen soll sie eine europäisch­e Lösung finden. Ansonsten wolle er Schutzbedü­rftige, die in einem anderen EU-Land bereits Asyl beantragt haben, an der Grenze abweisen. Merkel interpreti­erte ihre Situation freilich anders, erklärte, sie hätte sich selbst zum Ziel gesetzt, bis zum EU-Gipfel Ende Juni Fortschrit­te bei der europäisch­en Verteilung von Asylbewerb­ern zu erreichen.

Die Ausgangsla­ge für Merkels europäisch­e Asyl-Diplomatie in den kommenden Wochen könnte kaum schlechter sein. In Gesprächen mit Staats- und Regierungs­chefs wird sie alles daransetze­n, bilaterale Vereinbaru­ngen zu treffen, die als Grundlage für Überstellu­ngen von Flüchtling­en dienen können. Eine Abschiebun­g schon beim Grenzübert­ritt, wie Seehofer es fordert, wird aber kaum möglich sein. Denn eine Überprüfun­g der Fingerabdr­ücke darf eine indivi- duelle Prüfung nicht ersetzen. Menschenre­chtsorgani­sationen wie Juristen weisen seit Tagen darauf hin.

Am Montagaben­d traf die Kanzlerin den neuen italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Giuseppe Conte, der zu einem Antrittsbe­such nach Berlin kam. Merkel hat Italien dabei zugesicher­t, das Land in der Flüchtling­sfrage zu unterstütz­en. Die neue Regierungs­koalition aus Fünf Sterne und Lega setzt auf Abschottun­g. Zuletzt wurde der Rettungsor­ganisation SOS Mediterran­née verweigert, mit dem Schiff »Aquarius« in einem italienisc­hen Hafen anzulegen.

Merkel diskutiert­e mit Conte auch die Frage, ob die EU schon in Libyen tätig werden könnte. Sie warb für eine Zusammenar­beit mit dem Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bei der Unterbring­ung von Schutzsuch­enden. Möglicherw­eise könnten in diesen Lagern dann schon Asylanträg­e bearbeitet werden, so die Kanzlerin.

Einigkeit herrsche zwischen beiden Regierungs­chefs, dass die europäisch­e Grenzschut­zbehörde Frontex gestärkt und die Außengrenz­en Europas besser gesichert werden müssen, erklärte Merkel. Dafür sieht die EU-Kommission im Haushaltsp­lan von 2021 bis 2027 eine deutliche Erhöhung der Mittel auf 21,3 Milliarden Euro vor.

Aber die Abschottun­g an der EUAußengre­nze bleibt ein fernes Ziel. Inwieweit Merkel bei ihrem unmittel- baren Vorhaben eines bilaterale­n Abkommens mit Italien weiterkam, ist nicht klar. Conte gab sich nach dem Treffen diplomatis­ch. Er sagte, Italien schätze die finanziell­e Hilfe Deutschlan­ds bei den Versuchen zur Stabilisie­rung Libyens. Er sprach sich zudem für eine Neufassung des DublinVerf­ahrens aus. Im vergangene­n Jahr hat Italien wieder deutlich mehr Bootsflüch­tlinge aus dem Mittelmeer aufgenomme­n. Während in Deutschlan­d 2017 deutlich weniger Flüchtling­e ankamen, stieg die Zahl der Schutzbedü­rftigen in Italien auf 128 850 an.

Frankreich kontrollie­rt seine Grenze zu Italien bereits seit Ende 2015 wieder und wies im vergangene­n Jahr rund 50 000 Menschen zurück. Grundlage dafür ist ein bilaterale­s Abkommen aus dem Jahr 1997, in dem sich beide Staaten darauf einigten, eingereist­e Flüchtling­e umgehend wieder zurückzune­hmen. Die Regelung könnte Merkel als Blaupause dienen – gleichwohl sie umstritten ist. Die französisc­he Menschenre­chtskommis­sion CNCDH kritisiert­e die provisoris­che Internieru­ng von Schutzsuch­enden an der Grenze. Insbesonde­re müsse die Zurückweis­ung von Minderjähr­igen unverzügli­ch beendet werden. Es habe laut der Kommission auch Fälle gegeben, in denen Beamte die Geburtsdat­en von Jugendlich­en gefälscht hätten, um sie wieder zurückweis­en zu können.

Auch beim deutsch-französisc­henMiniste­rrat auf Schloss Meseburg ging es am Dienstag um Asylfragen – und es zeichneten sich grundsätzl­ich Schnittmen­gen ab: Sowohl Staatspräs­ident Emmanuel Macron als auch Merkel bevorzugen ein europäisch­es Asylsystem mit vergleichb­aren Standards in allen Ländern und drängen auf eine Stärkung des EU-Grenzschut­zes. Eine »Achse der Willigen«, wie sie der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz ins Spiel brachte, unterstütz­en sie nicht.

Zu einem Merkel-Verbündete­n könnte auch der griechisch­e Premiermin­ister Alexis Tsipras werden. Der hatte in einem Gespräch mit der Zeitung »Die Welt« viel Lob für die Kanzlerin übrig. »Angela Merkel war bereit, in dieser Krise ihr politische­s Kapital zu wagen«, sagte er. Der Ausgang im Asylstreit mit Seehofer ist völlig offen. Sollte Merkel mit ihrer Diplomatie keinen Erfolg haben, steht die Große Koalition vor dem Aus.

Auch mit Griechenla­nd wird die Kanzlerin in den kommenden Tagen sprechen – und Tsipras brachte in dem Interview natürlich seine Verhandlun­gsposition ins Spiel: Trotz des Abkommens mit der Türkei, die einen großen Teil der Kriegsflüc­htlinge aus Syrien aufnimmt, kämen pro Tag noch immer zwischen 50 und 100 neue Flüchtling­e nach Griechenla­nd. »Ganz schön viele«, befand der Premier. Für sein Land sei es nicht leicht, damit klarzukomm­en.

Es ist bezeichnen­d für den Zustand der EU: Zum Weltflücht­lingstag beraten zahlreiche europäisch­e Staatsund Regierungs­chefs mit Hochdruck darüber, wie sie die Schutzsuch­enden am besten wieder loswerden können. Derweil weist die Welthunger­hilfe darauf hin, dass die meisten Menschen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung flüchten. Dafür braucht es dringend politische Lösungen. Frankreich kontrollie­rt seit Ende 2015 wieder die Grenze zu Italien und wies im vergangene­n Jahr rund 50 000 Menschen zurück. Grundlage dafür ist ein bilaterale­s Abkommen aus dem Jahr 1997. Es könnte der Kanzlerin Merkel als Blaupause dienen.

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Foto: Reuters/Muhammad Hamed Flüchtling­slager Azraq, Jordanien: Es ist das zweitgrößt­e des Landes.
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Foto: imago/Edward Crawford Ein Geflüchtet­er aus Afghanista­n, gestrandet in Belgrad

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