Rekord der Schande
Flüchtlingszahlen steigen zum fünften Mal in Folge auf neuen Höchststand
Berlin. Ist die Menschheit lernfähig? Kann die Antwort anders lauten als: nein, no, non, njet, nee ...? Im Jahr 2018 zumindest kann sie es nicht. Zum fünften Mal in Folge hat die Zahl der Flüchtlinge eine neue Rekordmarke erreicht. Laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, waren im vorigen Jahr rund 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht, gut drei Millionen mehr als noch 2016. Angeheizt werden die Fluchtbewegungen weiterhin durch Bürgerkriege und bewaffnete Konflikte. Die meisten Menschen flohen aus Syrien, Afghanistan, Südsudan, Myanmar und Somalia. Sie fanden nicht etwa Aufnahme in westlichen Staaten, sondern in Nachbarländern – das waren nach Angaben des UNHCR die Türkei (3,5 Millionen), Pakistan (1,4 Millionen), Uganda (1,4 Millionen), Libanon (998 000) und Iran (979 000). »Es bleibt weiter eine Krise der armen Welt«, so der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. Der größte Teil der Flüchtlinge, nämlich etwa 40 Millionen, bleibt dabei in den Krisenländern selbst.
Anders als bei den Flüchtlingszahlen kann von einem Rekordniveau bei der Fluchtursachenbekämpfung derweil wohl kaum die Rede sein. Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, fordert deshalb ein Umsteuern, gerade in Deutschland. »Statt eines Masterplans für Flüchtlingsabwehr an der bayerischen Grenze braucht es einen Masterplan für Fluchtursachenbekämpfung weltweit«, sagte sie. Die Bundesregierung stehe angesichts eines Waffenexportrekordes – von 2014 bis 2017 wurden Waffen im Wert von 25,1 Milliarden Euro ausgeliefert – in der Verantwortung. »Deutsche Rüstungskonzerne, auch und gerade die in Bayern, gehören zu den Hauptprofiteuren von Waffenexporten in alle Welt und schaffen immer neue Fluchtursachen. Notwendig ist ein gesetzliches Verbot der Rüstungsexporte«, so Dagdelen weiter.
Binnen zwei Wochen will Kanzlerin Merkel eine europäische Asylpolitik voranbringen. Das dürfte schwer werden. Schließlich streiten die EUStaaten schon seit Jahren über die Aufnahme von Flüchtlingen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht im Asylstreit mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) unter Druck, das ist klar. Ein Ultimatum, heißt es, habe Seehofer ihr gesetzt. Binnen zwei Wochen soll sie eine europäische Lösung finden. Ansonsten wolle er Schutzbedürftige, die in einem anderen EU-Land bereits Asyl beantragt haben, an der Grenze abweisen. Merkel interpretierte ihre Situation freilich anders, erklärte, sie hätte sich selbst zum Ziel gesetzt, bis zum EU-Gipfel Ende Juni Fortschritte bei der europäischen Verteilung von Asylbewerbern zu erreichen.
Die Ausgangslage für Merkels europäische Asyl-Diplomatie in den kommenden Wochen könnte kaum schlechter sein. In Gesprächen mit Staats- und Regierungschefs wird sie alles daransetzen, bilaterale Vereinbarungen zu treffen, die als Grundlage für Überstellungen von Flüchtlingen dienen können. Eine Abschiebung schon beim Grenzübertritt, wie Seehofer es fordert, wird aber kaum möglich sein. Denn eine Überprüfung der Fingerabdrücke darf eine indivi- duelle Prüfung nicht ersetzen. Menschenrechtsorganisationen wie Juristen weisen seit Tagen darauf hin.
Am Montagabend traf die Kanzlerin den neuen italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, der zu einem Antrittsbesuch nach Berlin kam. Merkel hat Italien dabei zugesichert, das Land in der Flüchtlingsfrage zu unterstützen. Die neue Regierungskoalition aus Fünf Sterne und Lega setzt auf Abschottung. Zuletzt wurde der Rettungsorganisation SOS Mediterrannée verweigert, mit dem Schiff »Aquarius« in einem italienischen Hafen anzulegen.
Merkel diskutierte mit Conte auch die Frage, ob die EU schon in Libyen tätig werden könnte. Sie warb für eine Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bei der Unterbringung von Schutzsuchenden. Möglicherweise könnten in diesen Lagern dann schon Asylanträge bearbeitet werden, so die Kanzlerin.
Einigkeit herrsche zwischen beiden Regierungschefs, dass die europäische Grenzschutzbehörde Frontex gestärkt und die Außengrenzen Europas besser gesichert werden müssen, erklärte Merkel. Dafür sieht die EU-Kommission im Haushaltsplan von 2021 bis 2027 eine deutliche Erhöhung der Mittel auf 21,3 Milliarden Euro vor.
Aber die Abschottung an der EUAußengrenze bleibt ein fernes Ziel. Inwieweit Merkel bei ihrem unmittel- baren Vorhaben eines bilateralen Abkommens mit Italien weiterkam, ist nicht klar. Conte gab sich nach dem Treffen diplomatisch. Er sagte, Italien schätze die finanzielle Hilfe Deutschlands bei den Versuchen zur Stabilisierung Libyens. Er sprach sich zudem für eine Neufassung des DublinVerfahrens aus. Im vergangenen Jahr hat Italien wieder deutlich mehr Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer aufgenommen. Während in Deutschland 2017 deutlich weniger Flüchtlinge ankamen, stieg die Zahl der Schutzbedürftigen in Italien auf 128 850 an.
Frankreich kontrolliert seine Grenze zu Italien bereits seit Ende 2015 wieder und wies im vergangenen Jahr rund 50 000 Menschen zurück. Grundlage dafür ist ein bilaterales Abkommen aus dem Jahr 1997, in dem sich beide Staaten darauf einigten, eingereiste Flüchtlinge umgehend wieder zurückzunehmen. Die Regelung könnte Merkel als Blaupause dienen – gleichwohl sie umstritten ist. Die französische Menschenrechtskommission CNCDH kritisierte die provisorische Internierung von Schutzsuchenden an der Grenze. Insbesondere müsse die Zurückweisung von Minderjährigen unverzüglich beendet werden. Es habe laut der Kommission auch Fälle gegeben, in denen Beamte die Geburtsdaten von Jugendlichen gefälscht hätten, um sie wieder zurückweisen zu können.
Auch beim deutsch-französischenMinisterrat auf Schloss Meseburg ging es am Dienstag um Asylfragen – und es zeichneten sich grundsätzlich Schnittmengen ab: Sowohl Staatspräsident Emmanuel Macron als auch Merkel bevorzugen ein europäisches Asylsystem mit vergleichbaren Standards in allen Ländern und drängen auf eine Stärkung des EU-Grenzschutzes. Eine »Achse der Willigen«, wie sie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz ins Spiel brachte, unterstützen sie nicht.
Zu einem Merkel-Verbündeten könnte auch der griechische Premierminister Alexis Tsipras werden. Der hatte in einem Gespräch mit der Zeitung »Die Welt« viel Lob für die Kanzlerin übrig. »Angela Merkel war bereit, in dieser Krise ihr politisches Kapital zu wagen«, sagte er. Der Ausgang im Asylstreit mit Seehofer ist völlig offen. Sollte Merkel mit ihrer Diplomatie keinen Erfolg haben, steht die Große Koalition vor dem Aus.
Auch mit Griechenland wird die Kanzlerin in den kommenden Tagen sprechen – und Tsipras brachte in dem Interview natürlich seine Verhandlungsposition ins Spiel: Trotz des Abkommens mit der Türkei, die einen großen Teil der Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufnimmt, kämen pro Tag noch immer zwischen 50 und 100 neue Flüchtlinge nach Griechenland. »Ganz schön viele«, befand der Premier. Für sein Land sei es nicht leicht, damit klarzukommen.
Es ist bezeichnend für den Zustand der EU: Zum Weltflüchtlingstag beraten zahlreiche europäische Staatsund Regierungschefs mit Hochdruck darüber, wie sie die Schutzsuchenden am besten wieder loswerden können. Derweil weist die Welthungerhilfe darauf hin, dass die meisten Menschen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung flüchten. Dafür braucht es dringend politische Lösungen. Frankreich kontrolliert seit Ende 2015 wieder die Grenze zu Italien und wies im vergangenen Jahr rund 50 000 Menschen zurück. Grundlage dafür ist ein bilaterales Abkommen aus dem Jahr 1997. Es könnte der Kanzlerin Merkel als Blaupause dienen.