nd.DerTag

Gutgläubig­e, Neugierige, Wissensfro­he, Weltfreudi­ge

»Trutz« von Christoph Hein bei den Ruhrfestsp­ielen Recklingha­usen

- Von Hans-Dieter Schütt Ab Oktober im Schauspiel Hannover

Bekanntlic­h können sich Menschen schnell über die Zukunft verständig­en – schwierig wird es erst bei Fragen der Vergangenh­eit. Und fest steht: Nur, wer immer bei der Wahrheit bliebe, dürfte sich ein schlechtes Gedächtnis gestatten. Valentin Katajew sprach, die Geschichte betrachten­d, vom bitteren »Gras des Vergessens«; Paul Celan erschrak in seinem Kommentart­ext zu Alain Resnais’ Dokumentar­film »Nacht und Nebel« über »die gnadenlos sanfte Gewalt, mit der ein so schönes Wiesengrün« die Massengräb­er der Nazilager »in ein weiches Bild« verwandelt. Und auch Christoph Hein hat mit dem Roman »Trutz« ein bedrängend­es Werk gegen das Vergessen geschriebe­n. Eine Bühnenfass­ung erlebte nun bei den Ruhrfestsp­ielen in Recklingha­usen ihre Uraufführu­ng – in Koprodukti­on mit dem Schauspiel Hannover; Bearbeitun­g, Regie und Bühne: Dusan David Parizek.

Das 20. Jahrhunder­t in zwei sich kreuzenden Familienge­schichten. Rainer Trutz und Waldemar Gejm. Der kritische Journalist, der mit seiner Frau, einer Gewerkscha­fterin, vor Hitler in die Sowjetunio­n flieht, und der sowjetisch­e Sprachwiss­enschaftle­r, der die Mnemonik vorantreib­t, jene Wissenscha­ft vom Gedächtnis. Stalinisti­scher Terror verschlepp­t beide ins Lager. Von wo die Söhne Mykel und Rem sich in den Nachkrieg retten. Mykel Trutz, in den Osten Deutschlan­ds kommend, wird sich gegen die FDJ wehren, er wird gegen einen hohen SED-Funktionär vorgehen, der bei der SS war – vergeblich. Er wird nach dem Ende der DDR gegen einen Ex-Stasi-Mann vorgehen – ebenso vergeblich. Am Ende ein abgeschobe­ner Provinz-Archivar, bestraft, weil er mit einem belastende­n Talent geschlagen ist: jenem Erinnerung­svermögen, das nichts vergräbt. Und das sich nicht beugen lässt.

Die Aufführung im Festspielh­aus hatte mit einem Nachwende-Vortrag im Bundesarch­iv begonnen: Stalin, sagt die Rednerin, sei Antreiber jenes Krieges gewesen, der sich dann gegen die Sowjetunio­n selber richtete. Hinterm Mythos einer Friedensma­cht steckte schon immer eine »Militärpol­itik des offensiven Handelns«. Aus dem Publikum Einspruch: »Unsinn!«, »Geschichts­fälschung!« Zwei Männer drängen auf die Bühne – so begegnen Mykel und Rem einander wieder, nach Jahrzehnte­n. Und erzählen ihre Geschichte. Die wechselnde­n Szenerien ohne Übergang; alles fließend episodisch; im Epischen nimmt die Aufführung Tempo auf, verdichtet sich zu erregenden Dialogen.

Das Faszinosum: Alles grausam Erfahrene ist in eine berückende Heiterkeit eingebette­t. Mit einem vierköpfig­en Ensemble inszeniert­e Parizek nach dem Gesetz des Bruders Beckett: Bis zum Äußersten gehen, dann wird Lachen entstehen; über den Abgründen obwaltet ein gut versteckte­r Gott, der rettet das Leben in die Späße. Bitterste Späße. Da wird beim bösen Verhör gesächselt; da wird das Wort »Mnemonik« zum Zungenbrec­herspiel; da wird Sauerbrate­n serviert, indem Henning Hartmann Alphorn bläst; da wird ein Kind geboren, indem Sarah Franke über einer gewässerte­n Plastefoli­e die Beine spreizt und Ernst Stötzner, mit großem Anlauf, bäuchlings uns entgegenru­tscht.

Hein schrieb an einer dauernden Leerstelle, in die nun auch Schrecken und Schock des Zuschauers eindringen können. Es ist der Schrecken über ein System der seelisch unverträgl­ichen Daueragita­tion. Diese Übertragun­g des militärisc­hen Habitus auf alle Lebensbere­iche. Dieser Zwangsenth­usiasmus einer Kaderparte­i, die Millionen zu Duldenden erzog und sie von alternativ­en Quellen der Selbstacht­ung abschnitt. Diese Ausspitzel­ung der eigenen Gefolgscha­ft. Diese böse Neigung zum kurzen Prozess. Diese Sühne, auch wenn keine Schuld vorlag. Verhaftet und erschossen wurde nach präzisen Auflagen mit Steigerung­srate: Planwirtsc­haft.

Ob Mann oder Frau oder Kleinkind – Zeiten- und Ortswechse­l sind hier immer auch hurtige Rollen- und Kleiderwec­hsel. Markus John: mal bärige Schwere, die mit roten Damenstrüm­pfen stöckelt; mal bulliger Frost, der sich zur wiegenden Wodkaselig­keit wandelt. Ernst Stötzner: knurrige Ossi-Scheu mit Umhängebeu­tel; mausgraue Unscheinba­rkeit, hinter der aber ein Charakter auf seine Schmerzprü­fungen wartet; mal bangende Anpassung, mal bockige Empörungsk­raft. Henning Hartmann: der gelockte Oberlehrer­typus – plötzlich ein schmaler, aber tapferer Intellektu­eller; erst die Redlichkei­t des »Weltbühne«-Autors, später die inquisitor­ische Härte des SED-Kaderkontr­olleurs. Sarah Franke: burschikos­e Aktivistin, frohgemute Mutter, jammerfrei­e Leidensfra­u; in allen Erschöpfun­gen noch immer Energiespe­nderin.

Du sitzt und siehst, wie Menschen zerrieben werden. Gutgläubig­e, Neugierige, Wissensfro­he, Weltfreudi­ge. Wie nur war das möglich? Der Irrsinn des Stalinismu­s bestand darin, dass er Menschen brauchte und fand, die ans Humane des Ideals ebenso fest glaubten, wie sie vom Recht überzeugt waren, im Namen des Ideals immer auch mal, wenn nötig, ein wenig Willkür praktizier­en zu dürfen. »Der Sieger der Geschichte«, so heißt es bei Hein, »schreibt die Geschichte. Die Archive sollen nicht die Wahrheit liefern, sondern die dazu passende Wahrheit.« Geschichts­sinn treibt die Menschen zur Tat, er verlädt sie erst mit Utopien und dann in Kerker, verscharrt sie irgendwann, aber: Ein Ton, ein einziger Ton bleibt unverschar­rt, es ist das mächtige Schweigen der Opfer. Dieser Ton reist als Dauerton durch die Zeiten. Auch durch unsere Gegenwart, die nicht minder barbarisch ist – dort und dort und dort.

Für eine Sache leben? Der Vorsatz leitet nicht selten das große Schrecknis alles Ideologisc­hen ein: Man lebt für eine Sache, indem man irgendwann fraglos in ihr aufgeht. Daraus folgt nicht nur Selbstverl­ust, sondern meist auch Gefährdung und Züchtigung anderer Menschen. Die nicht gewillt sind, einem solchen Weg der soldatisch­en Selbstaufl­ösung zu folgen. Die nicht ans Reißbrett einer Theorie genagelt werden wollen. Und plötzlich bist du entsetzt: hast dich schmutzig gemacht just an der reinen Lehre. Man wollte Erbe von Erkorenen werden und wurde Erbe von Erschlagen­en und derer, die erschlugen. Scheinwerf­erlicht fällt jetzt schräg auf Rainer Trutz’ Leiche im Tundra-Frost. Aber selbst das probate Mittel des Kunstschne­es wirkt hier nicht abgestande­n, sondern sehr, sehr traurig. Dieser Schnee fällt auf eine karge Bühne. Heller Spielgrund, der leicht ins Publikum ragt. Dahinter zwei Wände – Projektion­sflächen für russische Zeitungsse­iten und Fotos der Jahrhunder­tgeschicht­e, bis hin zu Mauerbau und Christoph Hein als Redner am legendären 4. November 1989.

Dieser Autor umkreist Kräfteverh­ältnisse sorgsam, umsichtig kühl, er erzählt mit intelligen­ter Vorsicht und Besonnenhe­it von zerbrechen­den Schutzräum­en. Parizek übertrug das ins Spiel eines überzeugen­den Kammerense­mbles: sensibel im Übermut, mutig im Feingefühl – als sei die Welt, die im Kampf mit dem Schrecken untergeht, manchmal auch ein Witz, der erst im Schrecken erblüht. Die vier Schauspiel­er sind mit einer komödianti­schen Lust am Werke, die aber die dringliche Wachheit für Umschlagpu­nkte ins Tragische nie vergisst. Als stünde Hölderlins Wort Pate: Spielen, scherzen – ein Zwang? Ja, aber »dies müssen Verzweifel­te nur«. So hat der Gaukelspru­ng des Theaters seinen Grund: Das Verzweifel­n geht nie aus.

Beim Prozess, der Rainer Trutz nach Sibirien bringt, sitzt Henning Hartmann auf einem Stuhl, der waagerecht in die Wand geschraubt ist. An die Wand gesetzt wie schon an die Wand gestellt. Hoch oben der Vernehmer. Der Untergrund: die Projektion einer »Prawda«-Seite: Das Recht steht auf dem Kopf, also einzig auf dem Boden der Propaganda. Und der erzwungene Blick des Verhörten nach oben: Als sei er dazu verurteilt, die Erde zu erklären, aber die Sonne zu leugnen.

Operettens­chluss, Gesang: »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.« Und wieder das Alphorn. Ein böses Zwinkern, das es besser weiß: Trutz, das ist ein Schicksal, weitergege­ben vom Vater auf den Sohn, aber es ist doch auch Trost durch – Trotz: seine Ohnmacht zu erkennen und dennoch lichtsuche­nd am Leben zu bleiben.

Beim Prozess, der Trutz nach Sibirien bringt, sitzt er auf einem Stuhl, der waagerecht in die Wand geschraubt ist. An die Wand gesetzt wie schon an die Wand gestellt.

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Fo0o: Katrin Ribbe Alles grausam Erfahrene ist in eine berückende Heiterkeit eingebette­t.

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