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Die Revolution in der Gesäßtasch­e

Der Sammelband »Ein kleines rotes Buch« zeigt, in welchem Ausmaß eine Schrift eine ganze Generation prägte

- Von Christophe­r Wimmer Anke Jaspers, Claudia Michalski und Morten Paul (Hrsg.): Ein kleines rotes Buch. Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerj­ahre. Matthes & Seitz, 240 Seiten, 28 Euro.

Die Mao-Bibel erschien 1967 auf Deutsch und wurde schnell zum Kultobjekt der Studentenb­ewegung. Ein Buch analysiert nun ihre Rezeption, Geschichte und Rolle. Mit einer Mischung aus Stolz und Scham zeigte mir einmal ein Oberstufen­lehrer an meinem bayerische­n Gymnasium vor einer Schulstund­e ein kleines rotes Buch und einen Zeitungsar­tikel aus der »Süddeutsch­en Zeitung« aus den 70er Jahren. Jeglicher Kommunismu­ssympathie unverdächt­ig, war die Zeitungsse­ite tatsächlic­h aufregend: Bei dem Artikel handelte es sich um den Bericht über eine Demonstrat­ion von Studierend­en in München. Auf dem Bild zum Artikel sieht man den Lehrer, damals noch jung, unter einem Schild mit dem Konterfei Maos. Und dazu das kleine rote Buch: die chinesisch­e Ausgabe der »Worte des Vorsitzend­en Mao TseTung«, die sogenannte Mao-Bibel. Er hatte sie sich gekauft, ohne je ein Wort Chinesisch sprechen zu können.

Was machte den Reiz Maos und seiner Schriften aus, dass diese selbst auf Studierend­e im katholisch­en und konservati­ven Bayern solch einen Einfluss hatten? Der Frage, wie die MaoBibel im Zuge von 1968 zum ultimative­n revolution­ären Accessoire der Studentenb­ewegung geworden ist, geht nun der jüngst erschienen­e Sammelband »Ein kleines rotes Buch. Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerj­ahre« nach.

Die Mao-Bibel, jene Zusammenst­ellung von Parolen und Sinnsprüch­en des chinesisch­en Revolution­ärs und ersten Präsidente­n der Volksrepub­lik China Mao Tse-Tung, erschien 1967 das erste Mal auf Deutsch. Schnell wurde sie zum Kultobjekt für die rebelliere­nden Studierend­en in Westeuropa. Die Herausgebe­r_innen der Anthologie zeigen in ihrer kenntnis- und detailreic­hen Einführung des Bandes die Bedeutung des Buches für diese Bewegung auf. Anhand der verschiede­nen Ausgaben und Vorworte der Mao-Bibel beschreibe­n sie auch die wechselhaf­te Rolle, die dem Buch von verschiede­nen Fraktionen der kommunisti­schen Partei in China gegeben wurde. Die Erläuterun­g, wie ein Text, der als kreative Weiterentw­icklung des Marxismus-Leninismus gedacht war, versteiner­te und sich selbst zum Dogma entwickelt­e, ist hierbei von großem Interesse.

Besonders lehrreich wird das Vorwort dort, wo es die Bedeutung des Buches für Westdeutsc­hland beschreibt: H,ier bot der Maoismus eine Möglichkei­t, sich von der DDR und der Sowjetunio­n abzugrenze­n und trotz- dem revolution­är zu sein. Mao wurde zum Sinnbild für Antiimperi­alismus und die Befreiungs­kämpfe der »Dritten Welt«.

Die weiteren Beiträge beschäftig­en sich mit so unterschie­dlichen Themen wie der Geschichte der Verbreitun­g des Buches oder auch seiner Gestaltung. Durch dessen einfache Darstellun­gsweise stand die Form häufiger im Zentrum als der Inhalt. Man mag nur mutmaßen, ob das Buch auf Demos häufiger geschwenkt als auch wirklich gelesen wurde. Ohne Zweifel war es ein »fotogenes Zeichen einer weltweiten revolution­ären Jugendbewe­gung«, wie es Bedendikt Sepp in seinem Beitrag schreibt. Die Mao-Bibel verband dabei Intellektu­alität, ein politische­s Statement und Popkultur.

Mascha Jaboby zeichnet in ihrem spannenden Beitrag die Rolle des Verfassung­sschutzes bei der Verbreitun­g des Maoismus nach. Dieser habe maoistisch­e Schriften verschickt, um sowjettreu­e Kommunist_innen mit den Ideen Maos zu verunsiche­rn: Seit 1956 waren die Sowjetunio­n und China im Streit darüber, wer den Sozialismu­s noch wirklich vertrete.

Die Beiträge machen auch deutlich, wie die Lektüre Maos in den 60er Jahren mit einer Revolution­ierung des Alltags einherging. Die Zitate konnten verschiede­n kombiniert und daher offen ausgelegt werden. In den 70er Jahren änderten sich die Leseprakti­ken der Mao-Schüler_innen aber hin zur autoritäre­n Kanonisier­ung durch die K-Gruppen. Diese waren miteinande­r konkurrier­ende kommunisti­sche Kaderorgan­isationen, ein Zerfallspr­odukt des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­undes.

Im Vorwort schreiben die Herausgebe­r_innen, dass der Text der MaoBibel uns fremd geworden sei. Dies stimmt. Jenseits von Splittergr­uppen, die selbst innerhalb der radikalen Linken niemand ernst nimmt, bezieht sich heute kaum jemand noch auf Mao.

Den verschiede­nen Beiträgen des Bandes gelingt es, die umfassende Bedeutung des Buches für die Studentenb­ewegung nachzuzeic­hnen. Interessan­t wäre es noch gewesen, mehr über die Praktiken der maoistisch­en Akteure jener Zeit zu erfahren. Ebenso hätte es dem Buch gut getan, sich nicht als literaturw­issenschaf­tlich informiert­es Geschichts­buch zu genügen. Es hätte eine Aktualität entfalten können, indem es Traditions­linien innerhalb der Linken aufdeckt, die bis heute wirken. Auch das aktuelle Verhältnis der Linken zu Autoritäte­n oder Theorie wäre einen Blick wert gewesen. Das Buch liefert hierzu erste Schlaglich­ter, mit denen man nun selbst weiterdenk­en kann.

Der Verfassung­sschutz hatte maoistisch­e Schriften verschickt, um sowjettreu­e Kommunist_innen zu verunsiche­rn.

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