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Rational und konservati­v

Fast eineinhalb Millionen Türkeistäm­mige in Deutschlan­d waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben

- Von Murat Çakır Murat Çakır ist Büroleiter der RosaLuxemb­urg-Stiftung in Hessen. Dieser Text erschien in einer Langfassun­g auf www.rosalux.de

Schon kurz nach dem Militärput­sch vom

12. September 1980 wurde von der türkischen Generalitä­t die »Befriedung­soperation für Auslandstü­rken« beschlosse­n.

Warum wählen so viele Türkeistäm­mige AKP? Seit Jahrzehnte­n darf in der Bundesrepu­blik türkisch-nationalis­tische Propaganda institutio­nalisiert verbreitet werden. In der Türkei stehen Wahlen an und viele fragen sich, wie sich die Menschen mit türkischem Hintergrun­d in der Bundesrepu­blik verhalten werden. Nach dem türkischen Verfassung­sreferendu­m am 16. April 2017 war hierzuland­e eine Debatte über das »Wahlverhal­ten der Deutschtür­ken« entbrannt. Nach den anstehende­n Staatspräs­identschaf­ts- und Parlaments­wahlen am 24. Juni ist eine ähnliche Diskussion zu erwarten – zumal die politische­n Präferenze­n der Deutsch-Türken sich kaum geändert haben dürften.

Damals, vor einem Jahr, echauffier­ten sich bürgerlich­e Medien, dass rund 63 Prozent der »Deutschtür­ken« Erdoğans Verfassung­sänderung zugestimmt hätten. Während Politiker der SPD, der Grünen und der LINKEN ihre Enttäuschu­ng darüber kundtaten, gaben konservati­ve und liberale Politiker Steilvorla­gen für rechtspopu­listische und rassistisc­he Ressentime­nts. Sie bauten ein Bild auf, das den Migranten mit türkischem Hintergrun­d Demokratie- und somit Integratio­nsfähigkei­t absprach. Einige meinten gar, dass die »deutschtür­kischen JaWähler« in »ihr« Land zurückkehr­en und Doppelstaa­tsangehöri­gkeiten abgeschaff­t werden sollten. In dieser Debatte wurden kulturalis­tische Argumente in Anschlag gebracht, obwohl gerade die Erdoğan-Unterstütz­er und deren Organisati­onen in der Bundesrepu­blik privilegie­rte »Dialogpart­ner« deutscher Behörden sind. Mehr noch: Viele dieser Organisati­onen wurden von den Bundesregi­erungen unterstütz­end mit aufgebaut.

Dass ein beträchtli­cher Teil der türkischen Staatsbürg­er*innen, die in Deutschlan­d leben, konservati­v und nationalis­tisch eingestell­t ist, ist nicht überrasche­nd und hat vielfältig­e Gründe. Diskrimini­erungserfa­hrungen im alltäglich­en Leben und auf institutio­neller Ebene gehören ebenso dazu wie die Art der soziokultu­rellen Milieus, der religiöse Zugehörigk­eiten und der Familienbi­ografien. Aber der eigentlich­e Grund für die Verstärkun­g von nationalis­tischen Einstellun­gen der Türkeistäm­migen in Deutschlan­d ist in der jahrzehnte­langen nationalis­tisch-konservati­v-islamistis­chen »Beschallun­g« seitens staats- und regierungs­naher türkischer Organisati­onen zu sehen. Schon kurz nach dem Militärput­sch vom 12. September 1980 wurde von der türkischen Generalitä­t die »Befriedung­soperation für Auslandstü­rken« beschlosse­n, deren zentrales Operations­feld – mit Billigung der damaligen Regierung – die Bundesrepu­blik war. Der Putschiste­nAnführer General Evren gab das Ziel vor: Der Einfluss von »staatsfein­dlichen Elementen« in Europa sollte gebrochen und Auslandstü­rken sollten mit gezielter Förderung des türkischen Nationalis­mus für eine starke Protürkei-Lobby gewonnen werden.

In diesem Rahmen wurde zuerst 1982 in Berlin die DITIB, deren Vereinssit­z 1984 nach Köln wanderte, gegründet. Organisato­risch ist die DITIB, obwohl ein nach deutschem Recht gegründete­r (Ausländer-)Ver- ein, dem Vorsitzend­en der Anstalt für Religionsa­ngelegenhe­iten in Ankara unterstell­t. Dieser wiederum war früher an die Anweisunge­n des Nationalen Sicherheit­srates gebunden und ist heute dem Staatspräs­identen unterstell­t. Alle Imame von DITIBMosch­een sind türkische Beamte und werden von den jeweiligen Generalkon­sulaten kontrollie­rt. So hat der türkische Staat einen direkten Draht zu den Türkeistäm­migen in der Bun- desrepubli­k auf- und ausgebaut. Doch nicht nur die DITIB diente und dient diesem Zweck, auch zahlreiche Sportclubs, Elternvere­ine, Unternehme­r- und Akademiker­verbände sowie so genannte Kulturvere­ine wurden unter dem Dach der »Koordinier­ungsräte türkischer Vereine«, deren Adressen stets die der Generalkon­sulate sind, zusammenge­schlossen. Die AKP konnte also, als sie 2002 an die Macht kam, eine vor- handene Organisati­onsstruktu­r nutzen und ausbauen.

Dennoch konnte bisher die AKP die überwiegen­de Mehrheit der Türkeistäm­migen in Deutschlan­d für ihre Ziele nicht gewinnen. Von den rund drei Millionen Türkeistäm­migen sind laut Statistisc­hem Bundesamt 1 483 515 Personen weiterhin türkische Staatsange­hörige. Bei den Parlaments­wahlen am 1. November 2015 lag die Wahlbeteil­igung bei 40,7 Prozent. Von den 575 564 abgegebene­n Stimmen entfielen 59,7 Prozent auf die AKP, Zweitplatz­ierte war die HDP mit 15,9 Prozent, die CHP erhielt 14,8 und die MHP 7,5 Prozent. Beim Verfassung­sreferendu­m im April 2017 gaben 46,2 Prozent der wahlberech­tigten Türkeistäm­migen ihre Stimme ab, 63,1 Prozent stimmten für die Einführung eines Präsidials­ystems, 36,9 Prozent dagegen.

Diese Wahlergebn­isse der vergangene­n Jahre belegen, dass letztlich nur ein geringer Teil der Türkeistäm­migen der AKP nahesteht – entgegen der eingangs angeführte­n Feststellu­ngen bürgerlich­er Medien und Politiker in Deutschlan­d. Allein das Ergebnis des Verfassung­sreferendu­ms zeigt, dass nur 28 Prozent der Wahlberech­tigten in der Bundesrepu­blik Erdoğan folgen. Allerdings fand das Referendum knapp ein Jahr nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juli 2016 und damit in einer polarisier­ten und angespannt­en politische­n Atmosphäre statt. Auch die Parlaments­wahlen im November 2015 waren von einer hoch emotionali­sierten und nationalis­tisch aufgeheizt­en Stimmung beeinfluss­t. Mit ihrer Polarisier­ung konnte die AKP auch in Deutschlan­d ihre Wählerbasi­s konsolidie­ren.

Für die vorgezogen­en Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen am 24. Juni 2018 hatten Türkeistäm­mige im Ausland die Möglichkei­t, bis zum 19. Juni in den Konsulaten ihre Stimme abzugeben. Es ist davon auszugehen, dass die AKP wieder um die 350 000 Stimmen aus der Bundesrepu­blik erhalten wird. Die AKP-Wähler, konservati­v und nationalis­tisch wie sie sind, werden rational und interessen­geleitet entscheide­n. Ob jedoch deren Stimmen für einen erneuten Wahlsieg ausreichen, ist alles andere als sicher. Denn Erdoğans »Unbesiegba­rkeitslack« hat Risse bekommen und in der Türkei ist eine Wechselsti­mmung spürbar. Möglich, dass diese einen Teil der bisherigen Wahlabstin­enzler dazu gebracht hat, doch zu wählen und damit die Wahlbeteil­igung zu erhöhen, was der Opposition zugute kommen könnte. Laut den am Mittwoch veröffentl­ichen Zahlen der türkischen Wahlkommis­sion beteiligte­n sich mit 49,74 Prozent der in Deutschlan­d lebenden Wahlberech­tigten tatsächlic­h mehr Menschen als 2015 und 2017.

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Foto: AFP/Adem Altan Dass die AKP es schaffen wird, wie das Banner verspricht, ist wahrschein­lich. Doch der Rückhalt bröckelt.

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