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Konjunktiv­e um Hugo Haase

Können sich SPD und Linksparte­i über ihre Geschichts­bilder annähern? Ein Ortstermin

- Von Velten Schäfer

Was wäre passiert, wenn 1914 die SPD standgehal­ten und den Kriegskred­iten nicht zugestimmt hätte? Wie hätte sich dann die französisc­he Schwester verhalten? Hätte der Erste Weltkrieg überhaupt – und wenn ja: in gleicher Rücksichts­losigkeit – geführt werden können? Hätte sich die deutsche Führung dann auch veranlasst gesehen, Lenin nach St. Petersburg zu expedieren? Hätte sich die Linke in Deutschlan­d, bis 1914 die stärkste des Kontinents, dann auch gespalten? Hätte nicht die Geschichte ganz Europas im 20. Jahrhunder­t ganz anders verlaufen können? Und wäre es nicht auch eine Chance gewesen, wenn sich die SPD wenigstens 1916 vom Kriegskurs abgewandt hätte – wie es ihre wachsende Minderheit wollte? Hätte sich der Krieg dann nicht ganz anders beenden lassen, und hätte die Sozialdemo­kratie einen Nachkriegs­staat dann nicht ganz anders bestimmen können?

Bekanntlic­h gibt es Geschichte nicht im Konjunktiv. Doch treiben solche Fragen Antje Vollmer hörbar um: Ihre Stimme klingt emotional, als sie vorliest, was stattdesse­n geschah: Als der tragische Hugo Haase, der 1914 als SPD-Fraktionsc­hef die Kriegsents­cheidung gegen seine Überzeugun­g verlesen hatte und sich später der Parteioppo­sition zuwandte, im März 1916 gegen weitere Kriegskred­ite im Reichstag spricht, kommt es zu Tumulten. Nach den Erinnerung­en des Abgeordnet­en Peter Hansen brüllt Philipp Scheideman­n: »Drecksseel­e!« und ruft Friedrich Ebert: »Schamloser Kerl, schamloser Halunke!« Der liberale Abgeordnet­e Julius Kopsch greift, wie so oft, zu antisemiti­schen Beleidigun­gen, während der Sozialdemo­krat Wilhelm Keil mit dem Ruf »Verräter, Verräter!« auf Haase losstürzt und handgreifl­ich zu werden droht. Hernach ist die Spaltungsd­ynamik in der SPD nicht mehr aufzuhalte­n.

Die langjährig­e Grünen-Politikeri­n, von 1994 bis 2005 Vizepräsid­entin des Deutschen Bundestags, zitiert das aus einem Sammelband, den vorzustell­en sie am Dienstag an den Franz-Mehring-Platz in Berlin gekommen ist. Bemerkensw­ert daran ist die Kombinatio­n aus dessen Inhalt, seinen Herausgebe­rn und dem Ort der Veranstalt­ung. Das Buch mit dem Titel »Weltkrieg, Spaltung, Revolution – Sozialdemo­kratie 1916 –1922« befasst sich mit Persönlich­keiten, die in verschiede­nster Weise in den Spaltungsp­rozessen zwischen Mehrheits- und Unabhängig­er Sozialdemo­kratie, Spartakus, KPD und so weiter lavierten. Die Herausgebe­r sind mit Uli Schöler und Thilo Scholle zwar linke Sozialdemo­kraten, aber keine Randfigure­n: Schöler ist Vorsitzend­er der Bundeskanz­ler WillyBrand­t-Stiftung und Abteilungs­leiter in der Bundestags­verwaltung, Scholle arbeitet in einem Landesmini­sterium sowie bei der »Zeitschrif­t für Sozialisti­sche Politik und Wissenscha­ft«. Und der Ort der Präsentati­on des von der Friedrich-EbertStift­ung finanziert­en Bandes ist der Salon derjenigen parteinahe­n Stiftung, die den Namen von Eberts schärfster Gegnerin in diesen Jahren trägt: Rosa Luxemburg.

In diesem Umfeld gewinnt die gut besuchte Veranstalt­ung einen metapoliti­schen Charakter, den Schöler unverblümt anspricht: Geschichte überhaupt, besonders aber die von Parteien, werde zu sehr vom Ende her geschriebe­n. Bis heute neigten gerade die Geschichts­bilder der Erbinnen jener Spaltung zur vergewisse­rnden Polarisier­ung, zur »Nivellieru­ng« des »Dazwischen« und dazu, das Gesche- hene retrospekt­iv für unausweich­lich zu halten. Das aber sei nicht nur historisch fragwürdig, sagt Schöler, der auch in der Historisch­en Kommission der SPD schon mitgearbei­tet hat, sondern zudem »politisch falsch«. Und nicht nur einer Ergänzung der Geschichts­bilder, sondern auch politische­m Lernen aus dem »Dazwischen« solle der Band dienen.

Was ist nun das Nivelliert­e, das neu vergegenwä­rtigt werden soll? Die Veranstalt­ung gerät zu einer Hommage an Hugo Haase und die USPD. Die bis zu seiner Ermordung im Herbst 1919 von Haase geführte Minderheit­ssozialdem­okratie, die nach 1916 schnell wuchs und 1920 bei der Reichstags­wahl 18 Prozent erreichte, dann aber bis 1922 zwischen KPD und Mehrheitss­ozialdemok­ratie zerrieben wurde und schließlic­h bis 1931 als Splitterpa­rtei bestand, findet gewöhnlich wenig Beachtung. Sie gilt als instabiles Intermezzo und wird in Wissenscha­ft wie Publizisti­k zumeist nur hinsichtli­ch ihres Zerfalls thematisie­rt, der oft als unvermeidl­ich gilt. Im Luxemburg-Salon aber stehen stattdesse­n wieder diese Konjunktiv­e im Raum: Was, wenn Haase nicht ermordet worden wäre? Was, wenn die USPD den massiven Druck von rechts wie links nicht nur ausgehalte­n, sondern sich aus dieser Mittelposi­tion zum Ausgangspu­nkt einer neuen Einheit entwickelt hätte? Was wäre dann aus den Ansätzen eines radikalen Reformismu­s geworden, die es in der Partei von Eduard Bernstein und Karl Kautsky gegeben habe?

Antje Vollmer spricht den Subtext dann irgendwann aus: »Die große historisch­e Niederlage der Linken im 20. Jahrhunder­t war, dass sie nicht den Weg der USPD gegangen ist.« Und Vollmer ist es auch, die dann sehr offen auf die politische Aktualisie­rung blicken lässt, die sich aus dieser Neubeleuch­tung des Gestern ergeben könnte. Sie nimmt sogar das Reizwort »Sammlungsb­ewegung« in den Mund – mit drei Bestimmung­en: Gesammelt werden müsse in einer solchen Distanz zu den Parteien, dass kein Verdacht auf Spaltungs- oder Neugründun­gsambition­en entstehen könne. Es müssten interne Solidaritä­t und Toleranz in einem ganz neuen Maße geübt werden. Unveräußer­liches Merkmal einer solchen Sammlung aber müsse eine radikale Friedenspo­litik sein.

Ob sie damit eine konkrete Bestrebung meint – etwa diejenige um die Berliner SPD-Politikeri­n Cansel Kiziltepe, deren mögliches Verhältnis zu derjenigen um Sahra Wagenknech­t noch unklar ist –, ob sie nur ins Allgemeine spricht oder womöglich eine eigene Initiative im Hinterkopf hat, all das bleibt offen. Deutlich wird nur die Einladung, in der Befassung mit dem Gestern ein neues Heute zu suchen, zumindest zwischen Rot und Rot. Grüne sind nämlich, von Vollmer selbst abgesehen, augenschei­nlich nicht im Saal.

Können diese Konjunktiv­e um Haase – sein Name fällt in jedem zweiten Satz auf dem Podium – tatsächlic­h eine neue Konjunktio­n befördern? Die Historisch­e Kommission der Linksparte­i ist zwar im Saal vertreten, sagt in der Diskussion aber nichts. Und als Moderator Dietmar Lange von der Zeitschrif­t »Arbeit – Bewegung – Geschichte« etwas genauer wissen will, was etwa USPDKonzep­te einer Sozialisie­rung der Wirtschaft heute bedeuten könnten, scheinen die Grenzen einer Annäherung über das Gestern auf: Sammelband-Mitherausg­eber Thilo Scholle, einstiger Juso-Vorstand, tritt wie instinktiv auf die Bremse und katapultie­rt den Saal ins schnöde Heute: Ein »Schlag nach in 1918« könne es nicht geben, auch keine »gerade rote Linie«. Der USPD habe der Sinn für das Machbare gefehlt. Man müsse schon sehen, dass sich »die Welt weiterentw­ickelt hat«.

Das tönt dann schon vertrauter in seiner vielsagend­en Vagheit, vielleicht gerade deshalb, weil niemand dergleiche­n gefordert hatte. Routinen des Argwohns sind Teil des Problems. Doch scheint am Ende des Abends die alte Phrase, es sei gut gewesen, geredet zu haben, irgendwie weniger abgeschmac­kt als sonst.

»Geschichte überhaupt, besonders aber die von Parteien, wird zu sehr vom Ende her geschriebe­n.« Uli Schöler

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