»Ein schwarzer Tag für die Demokratie«
Bundesregierung erwartet nach Wahlen in der Türkei konstruktive Zusammenarbeit mit Ankara
Nach dem Wahlsieg in der Türkei kann Recep Tayyip Erdoğan seine Macht weiter ausbauen. Die OSZE-Wahlbeobachtermission sah jedoch einen »Mangel an gleichen Bedingungen«. Die Bundesregierung erwartet nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eine konstruktive Zusammenarbeit mit Ankara. Man gehe davon aus, dass die Arbeitsbeziehungen zwischen den beiden Regierungen »auch in Zukunft konstruktiv und gedeihlich sein werden«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Politiker von Grünen, Linkspartei und SPD kritisierten die Wahlen indes als unfair. Die Medien des Landes würden zu »praktisch 90 Prozent« von Erdoğan kontrolliert, sagte der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir am Montag im Deutschland- funk. Der Präsidentschaftskandidat der Linkspartei HDP, Selahattin Demirtaş, habe »seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus« bestreiten müssen. Linksfraktionsvize Sevim Dağdelen sprach von einem »schwarzen Tag für die Demokratie«. Die SPD-Politikerin Cansel Kızıltepe sagte im ARDMorgenmagazin, Erdoğan habe mit dieser Wahl »sein Lebensprojekt realisiert. Er hat jetzt Staats-, Regierungs- und Parteiamt in einer Hand. Das ist nicht wirklich demokratisch, weil die Gewaltenteilung nicht mehr gegeben ist«, warnte Kızıltepe.
Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen setzte sich Erdoğan nach Angaben der Hohen Wahlkommission der Türkei bereits im ersten Wahlgang mit 52,5 Prozent der Stimmen als Präsident durch. Auch im Parlament eroberte das Wahlbündnis von Erdoğans AKP und der rechten MHP eine absolute Mehrheit. Mit der Wahl tritt zugleich eine Ver- fassungsreform in Kraft, mit der die Befugnisse des Staatspräsidenten deutlich erweitert werden. »Jetzt hat Erdoğan die absolute Macht im Land, und ich sehe niemanden, der sich ihm wirklich
Cem Özdemir, Grüne
entgegensetzen kann«, sagte Özdemir. Positiv sei allerdings, dass die HDP »trotz massiver Unterdrückung« den Wiedereinzug ins Parlament geschafft habe.
Die Kurdische Gemeinde in Deutschland verwies darauf, dass Erdoğan »trotz zahlreicher Unregelmäßigkeiten« nur 52,5 Prozent erreicht habe. KGD-Vorsitzender Ali Ertan Toprak sagte: »Wer trotz der massiven Behinderung der Opposition, unter Nutzung sämtlicher staatlicher Ressourcen und Medien sowie dokumentierter Wahlmanipulationen an vielen Urnen auf dieses Ergebnis kommt, hat eigentlich verloren.«
Die Opposition hatte Wahlfälschungen befürchtet und daher mehrere Hunderttausend Wahlbeobachter mobilisiert. Der aussichtsreichste Oppositionskandidat, Muharrem İnce von der CHP, bezeichnete den Wahlverlauf als unfair, akzeptierte aber Erdoğans Wahlsieg. Die Wahlbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kritisierte am Montag einen »Mangel an gleichen Bedingungen«. Zugleich kamen die Beobachter zu dem Schluss, dass trotz etlicher Unregelmäßigkeiten am Wahltag die Regeln »weitgehend eingehalten« worden seien.
»Jetzt hat Erdoğan die absolute Macht im Land, und ich sehe niemanden, der sich ihm wirklich entgegensetzen kann.«
»Wir haben uns vor keiner Macht gebeugt, wir verbeugen uns nur vor Allah!« Recep Tayyip Erdoğan
Nach den Wahlen in der Türkei steht dem neuen Präsidialsystem nichts mehr im Wege. Es verleiht dem Präsidenten nahezu Allmacht. Er wird Staats- und Regierungschef sowie AKP-Parteichef in einer Person sein. Trotz eines vergleichsweise lustlosen Wahlkampfes von Recep Tayyip Erdoğan und trotz aller Euphorie um den Oppositionskandidaten Muharrem İnce hat Erdoğan am Ende doch gewonnen. Weder der rhetorisch gewandte İnce noch die wieder zweistellige Inflation und die Kursstürze der heimischen Währung haben den Erdoğan-Block groß beeinflusst. Mit rund 52 Prozent erzielte er fast genau das gleiche Ergebnis wie bei seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014. Ungeachtet der ernstzunehmenden Vorwürfe wegen Wahlbetrugs und Einschüchterung der Wähler – insbesondere im kurdischen Südosten des Landes – erscheint das Bild der Wahlen, wenn man es nach Regionen betrachtet, einigermaßen stimmig. Erdoğan feierte in seinem ersten Tweet nach der Wahl einen »Sieg der Demokratie«. Bei einer nächtlichen Balkonrede vor Anhängern wurde es dann noch pathetischer: »Wir haben uns vor keiner Macht gebeugt, wir verbeugen uns nur vor Allah!«
Das soll sich so anhören, als hätte Erdoğan gegen einen übermächtigen Feind gewonnen. Das weit verbreitete Narrativ, dessen sich der Präsident hier bedient lautet: Ausländische Mächte versuchten beständig, die Türkei klein zu halten.
Tatsächlich ist es eher so, dass die Opposition gegen eine Übermacht – die des Erdoğan-Regimes – kämpfen musste. Der drittplatzierte Kandidat der Opposition, der kurdische Anwalt Selahattin Demirtaş, musste seinen Wahlkampf aus der Untersuchungshaft führen. Gerade mal zehn Minuten durfte er im staatlichen Fernsehen sprechen. Erdoğans Reden liefen dagegen 180 Stunden. Und es ist nicht nur das staatliche Fernsehen, das Erdoğan bevorzugt. Mittlerweile sind alle großen Medien im Lande in Besitz einer Handvoll von Geschäftsleuten, die Erdoğan unterstützen. Kurz vor der Wahl musste der letzte noch halbwegs unabhängige große Medienunternehmer, Aydin Doğan, aufgeben. Ihm droht wegen angeblicher Steuervergehen eine langjährige Haftstrafe. Das mag seine Bereitschaft zu verkaufen erhöht haben. Neben der Medienkonzentration, wegen der während des Wahlkampfes die Opposition extrem benachteiligt war, wurde der Ausnahmezustand kurz vor Bekanntgabe des Wahltermins im April verlängert. Die Wahlen fanden also unter dem Diktat von Notstandsgesetzen statt.
Während Erdoğan mit seinem Ergebnis als Präsident zufrieden sein kann, dürfte er über das Ergebnis der Parlamentswahl weniger erfreut sein. Seine AKP verlor sieben Prozent. Erstmals muss Erdoğan eine Koalition eingehen. Hierfür steht Devlet Bahçeli mit seiner ultranationalistischen MHP bereit. Trotz der Abspaltung eines Teiles der MHP unter Führung der früheren Innenministerin Meral Akşener schaffte es die MHP überraschenderweise noch auf elf Prozent. Dies hatte nicht einmal die MHP selbst angenommen – und daher ein Wahlbündnis mit der AKP geschlossen, damit diese die MHP im Huckepack-Prinzip über die Zehn-Prozent-Hürde mit ins Parlament nimmt. Nach dem im Frühjahr erlassenen neuen Wahlgesetz waren solche Bündnisse erstmalig möglich. Das jetzige Ergebnis für die MHP bedeutet allerdings, dass die Partei für zukünftige Wahlen hoffen kann, wieder die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden, auch ohne sein Wahlbündnis mit der AKP zu erneuern. Das macht sie zu einem schwierigen Koalitionspartner, zumal Parteichef Bahçeli allen Grund hat, sich zu profilieren. Denn mit Meral Akşeners IYI-Par- ti und Erdoğans AKP gibt es nun zwei große Parteien, die mit der MHP um das gleiche nationalistisch-religiöse Wählerpotenzial ringen.
Eine weitere schlechte Nachricht für Erdoğan ist, dass es auch die Linkspartei HDP trotz heftiger Repressionen wieder geschafft hat, die ZehnProzent-Hürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen. Die HDP wird die drittstärkste Fraktion stellen. Das war sie nach den Wahlen 2015 ebenfalls, ehe viele ihrer Abgeordneten ins Gefängnis mussten.
Während die HDP ihren Teilerfolg feierte, herrscht bei der Opposition und ihr nahestehenden Intellektuellen Entsetzen, nicht nur wegen des unerwartet deutlichen Sieges von Erdoğan im ersten Wahlgang, sondern auch, weil nun das neue Präsidialsystem in Kraft tritt, das dem Präsidenten nahezu alle Macht verleiht. Er wird Präsident, Ministerpräsident und AKP-Parteichef in einer Person sein. Die Minister sind nur von ihm abhängig. Er hat den meisten Einfluss auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtes und des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte, der für die Besetzung von Richterstellen und Disziplinarverfahren in der Justiz zuständig ist. Als Parteichef kann er bestimmen, wer auf die Wahllisten der AKP kommt. Die Rektoren der Hochschulen ernennt er ohnehin.
»Die Demokratie hat die Wahl verloren, der politische Islam hat sie gewonnen«, meinte der oppositionelle Journalist Aydın Engin in einer ersten Reaktion Sonntagnacht. Die Re-Islamisierung von Staat und Gesellschaft, insbesondere im Erziehungsbereich werde nun von Erdoğan weiter vorangetrieben werden. Sein Kollege Tayfun Atay hob hervor, dass die Zerrissenheit des Landes fortdauere. Im kurdischen Diyarbakır oder im westlich-laizistisch orientierten Izmir wären ganz andere Parlamente gewählt worden als im türkischen Durchschnitt. Die politischen Akteure hätten fast alle in dieser oder jener Weise etwas gewonnen, das Land habe aber bei der Wahl verloren. Feiernde Erdoğan-Fans sehen das natürlich anders. Was kümmert sie schon, dass das, was Erdoğan »unsere heilige Nation« nennt, nur eine hauchdünne Mehrheit ist, dem ein politisch marginalisierter Rest gegenübersteht.