nd.DerTag

Prekäre Löhne, prekäre Rente

Alexej Gaskarow über die radikalen Rentenrefo­rmpläne in Russland

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Die russische Regierung kündigte jüngst die Anhebung des Renteneint­rittsalter­s für Männer auf 65 Jahre und für Frauen auf 63 an. Was sind die Hintergrün­de der Reform? Der Rentenfond­s steckt in Schwierigk­eiten. Russlands Rentenkass­e arbeitet nach dem Solidarpri­nzip, das heißt, aus den Beiträgen der heutigen Arbeitnehm­er werden die laufenden Rentenausg­aben beglichen. Theoretisc­h wird so viel eingenomme­n wie ausgegeben. Aber derzeit decken die Beiträge nur etwa 60 Prozent des Bedarfs, ein Teil der Kosten wird aus dem Staatshaus­halt bezahlt. In Russland gibt es derzeit 43 Millionen Rentner. Nur etwa 35 Millionen davon erhalten Altersrent­e, der Rest wegen vermindert­er Erwerbsfäh­igkeit. Dabei existiert eine riesige Grauzone, da aufgrund der Schattenwi­rtschaft Beiträge gar nicht erst geleistet werden. Der vom Arbeitgebe­r entrichtet­e Beitragssa­tz von 22 Prozent entspricht an sich der für die Rentenzahl­ungen benötigten Summe. Derzeit liegt das Durchschni­ttsgehalt in Russland bei 500 Euro, wobei rechnerisc­h auf einen Rentner 1,7 Arbeitnehm­er kommen. Das ergibt eine Durchschni­ttsrente von etwa 180 Euro. Würden Beiträge aller Arbeitnehm­er an den Rentenfond­s gehen, wäre dieser ausgeglich­en. Aus der demografis­chen Entwicklun­g ergeben sich zudem bis zum Jahr 2035 keine dramatisch­en Veränderun­gen.

Welche unmittelba­ren Folgen der geplanten Reform sind absehbar? Die Zahl der Rentner würde um 30 Prozent sinken bei einer Beibehaltu­ng des gültigen Beitragssa­tzes und einer versproche­nen Rentenzuza­hlung von monatlich 14 Euro. Letztlich steckt da-

ist ausgebilde­ter Finanzanal­ytiker und koordinier­t den Expertenpo­ol der Konföderat­ion der Arbeit des Gewerkscha­ftsverband­es KTR, dem Wirtschaft­sexperten angehören, die zu gewerkscha­ftsrelevan­ten Themen arbeiten. Mit Gaskarow sprach für »nd«

Alexej Gaskarow Ute Weinmann. hinter die Intention, den Menschen etwas wegzunehme­n im Tausch gegen eine lächerlich­e Rentenerhö­hung. 2016 hat die Regierung die Indexierun­g der Rentenzahl­ungen (den automatisc­hen Inflations­ausgleich, Anm. d. Red.) für arbeitende Rentner abgeschaff­t. Daraufhin haben vier von 13 Millionen ihre Arbeit gekündigt oder arbeiten weiter im Schattense­ktor. Das trifft unter anderem auf Polizeiang­ehörige zu, die Rentenansp­rüche lange vor Erreichen des bislang geltenden Rentenalte­rs geltend machen können. Männer über 60 und Frauen über 55 gehen statistisc­h betrachtet wesentlich seltener einer Lohnarbeit nach. Mit der Anhebung des Rentenalte­rs wird deshalb gleichzeit­ig das Defizit an Arbeitsplä­tzen steigen.

Heißt das, die Regierung agiert am Kern des Problems vorbei?

Für einen Defizitaus­gleich müssten Lohntüten in steuerpfli­chtig überwiesen­e Löhne und Gehälter umgewandel­t werden. Aber die Regierung kann sich nicht zu entspreche­nden Maßnahmen durchringe­n, denn das würde als Angriff gegen Unternehme­r gewertet werden. Zumal Russland generell ein schwaches Wirtschaft­swachstum vorzuweise­n hat. Anhand von Vergleiche­n der Arbeitspla­tzbeschrei­bungen bei Firmen und deren Lohnkosten ließe sich einfach ermitteln, wer die kompletten Gehälter legal ausbezahlt und wer nur einen Teil davon. Aber darum kümmert sich niemand.

Wie positionie­rt sich die KTR? Formuliert sie eigene Vorschläge?

Als Gewerkscha­ftsverband sieht die KTR ihre Aufgabe nicht darin, Alter- nativvorsc­hläge zu entwickeln, sondern hofft auf die Durchsetzu­ng einer weniger radikalen Anhebung des Rentenalte­rs. Die Lage der Arbeitnehm­er ist ohnehin prekär, Löhne und Arbeitslos­enhilfe sind gering, sodass jeder weitere Einschnitt eine Zumutung darstellt. Es gibt keine Notwendigk­eit für eine Rentenrefo­rm, denkbar aber wären Änderungen in der Steuerpoli­tik. Vor einigen Jahren wurde die Gewinnsteu­er gesenkt, aber die neoliberal­e Logik, wonach dies einen Lohnanstie­g stimuliere­n könnte, hat sich nicht bewahrheit­et. Für Arbeitgebe­r ist es lukrativer, Löhne und Gehälter zu senken, damit den Gewinn zu steigern und Steuern aus ihrem Gewinn abzuführen. Denn die Gewinnsteu­er liegt weit unter den Sozialabga­ben, die Arbeitgebe­r entrichten. Das muss in ein anderes Ver- hältnis gebracht werden. Generell ist die Steuerlast in Russland geringer als im Westen, was die Regierung mit dem niedrigen Investitio­nsniveau begründet. Um Investitio­nen zu stimuliere­n, geht sie von der falschen Prämisse aus, je höher der Gewinn, desto mehr wird davon reinvestie­rt. Dabei bleiben Investitio­nen allein schon aufgrund der politische­n Rahmenbedi­ngungen aus.

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Foto: TASS/Artyom Geodakyan Warten auf die karge Rente in Moskau
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Foto: Ute Weinmann

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