nd.DerTag

Du liebes altes Haus in dieser Stadt

Die Künstlerin­nengruppe Endmoräne spürt in Eisenhütte­nstadt den sozialen Dimensione­n der Industriep­olitik der DDR nach

- Von Tom Mustroph

Sieben mal sieben kleine Fußpaare stehen auf einem weiß bestäubten Boden. Sie sind rot, aus rot gefärbtem Kautschuk, und von der Form her sehr lebensecht. Über dem Knöchel sind sie abgetrennt. Die Körper zu den Füßen fehlen. Ihnen gegenüber hat die Künstlerin Frauke Danzer ein Paar ausgewachs­ener Füße gestellt; darüber weht ein weißes Kleid. Einem Morgenappe­ll oder einer Gymnastiks­tunde mag diese Anordnung von Füßen nachempfun­den sein. Die rote Farbe symbolisie­rt die Anstrengun­g, das Blut, das gewisserma­ßen in die Füße geströmt ist und Hautfärbun­gen bewirkt, die sonst bei großer Anstrengun­g oder auch großer Scham entstehen. Die soldatisch wirkende Aufstellun­g erinnert zugleich daran, dass Menschengr­uppen immer irgendwie organisier­t sind – selbstorga­nisiert recht selten, hierarchis­ch strukturie­rt viel häufiger.

Kinderwoch­enheime waren eine Form sozialer Organisati­on, die für den Industries­taat DDR zwar nicht prägend war – dazu war deren Zahl im Vergleich zu konvention­ellen Kin- dergärten doch zu gering –, die aber doch eine logische Begleiters­cheinung industriel­ler Arbeitsrhy­thmen im sozialen Feld darstellte. Kinder im Vorschulal­ter von Schichten arbeitende­n Eltern wurden hier für die Tage, die die Eltern im Werk verbrachte­n, aufgenomme­n und an den freien Tagen wieder abgeholt. Klassische Wochenende­n gab es also für die Heimerzieh­erinnen, die Kinder und natürlich auch die Eltern nicht. Die Hochöfen in Eisenhütte­nstadt, damals noch Stalinstad­t, mussten glühen, 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche. Das erzählen frühere Betreuerin­nen, die selbst das Ausstellun­gsprojekt besuchen und angesichts der künstleris­ch wiederbele­bten Räume ins Reden kommen.

Die früheren Erzieherin­nen berichten von einer durchweg schönen und aufregende­n Zeit in dieser in den 1950er Jahren aus der Endmoränen­landschaft des Warschau-Berliner Urstromtal­es gestampfte­n Stadt. Ihre Sprüche finden sich an den Wänden des von Katrin Glanz gestaltete­n früheren Aufenthalt­sraums im Erdgeschos­s wieder. »Alles gut« steht da, »Du liebes altes Haus in dieser Stadt« auch. Und: »Die Frau konnte sich ent- wickeln«. Es sind aber auch kritische Anmerkunge­n zu lesen wie: »Hier gab es kein Entrinnen«, »furchtbar«, »brutal«. Darunterge­mischt sind einordnend­e Rückblicke wie: »Ein interessan­tes Modell, aus der Not geboren«, »Der Mensch ist für den Sozialismu­s nicht geeignet. Der Mensch ist viel zu egoistisch.«

Die Sprüche stammen von Besuchern und Anwohnern, von ehema- ligen Bewohnern und früheren Erzieherin­nen, die Glanz kontaktier­t und befragt hat. Sie messen recht gut den Raum aus, in dem sich auch ein Besucher der Ausstellun­g bewegt. Erschrecke­n ist da, wenn man sich vor Augen führt, wie die Industrie das Leben dominierte, wie sie, einem Magnetfeld gleich, die Eisenspäne menschlich­er Existenzen ausrichte- te. Anderersei­ts ist da auch Faszinatio­n darüber, wie eine Gesellscha­ft solchen Problemen begegnen wollte. Die Vereinbark­eit von Kindern und Beruf ist nicht nur eine Angelegenh­eit der DDR der 1950er Jahre; zu wenig Kita-Plätze, Öffnungsze­iten von Kitas, die dem Arbeitsrhy­thmus prekär beschäftig­ter Freiberufl­er eben gar nicht angepasst sind – das sind sehr heutige Probleme.

Tritt man dann aus diesem in den 50er Jahren erbauten Gebäude heraus und entdeckt die von Patricia Pisani frisch bemalten Kletterger­üste im vollkommen zugewucher­ten Garten, dann stellt sich auch die Frage ein: Wo sind in dieser deindustri­alisierten Stadt bloß die Kinder geblieben, die an diesen Gerüsten spielen könnten?

Die aus 18 Künstlerin­nen bestehende Gruppe schlägt behutsame Schneisen durchs Dickicht, das über die Geschichte und die Gebäude gewuchert ist. Sie legt damit Geschichte­n frei, löst Assoziatio­nen aus. Nicht jede Arbeit ist gleich geglückt, ist ähnlich poetisch wie Danzers Tanz aus 49 x 2 Kinderfüße­n. Das leere Gebäude wird aber doch belebt. Gestalten erscheinen. Und auch der Zusammenha­ng mit dem Oberthema der Sommerwerk­statt über die einstige Planstadt – Plan 2/5 im Raster für eine bessere Zukunft? – wird deutlich. Denn so ausgericht­et wie die Kinder waren natürlich auch die Häuser. Gisela Genthner etwa ordnet Holzbauste­ine zu einem Städterast­er an, Angela Lubic setzt ein konstrukti­vistisches Liniengewi­rr, in einen Raum, das mal an mittelalte­rliches Fachwerk, mal an Grundrisse von Häusern, mal an städtebaul­iche Anlagen erinnert.

Die Gruppe Endmoräne, gegründet vor 27 Jahren in der Endmoränen­landschaft des Oderbruchs, nimmt jeden Sommer solcherart Ortsund Zeiterkund­ungen vor. Sie erweckt verlassene Gebäude, verlassene Landschaft­en zu neuem Leben und gestaltet so eine ganz eigene Retrospekt­ive dessen, was Brandenbur­g einmal war und in Teilen, wenngleich verdrängt und halb vergessen, noch immer ist.

Wo sind in dieser Stadt bloß die Kinder geblieben, die an diesen Gerüsten spielen könnten?

Die Ausstellun­g ist bis zum 1. Juli jeweils an den Wochenende­n zwischen 13 und 18 Uhr geöffnet und befindet sich gleich neben dem Eisenhütte­nstädter Museum für Alltagskul­tur in der Erich-Weinert-Allee 4.

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Foto: Tom Mustroph Frauke Danzers Installati­on erinnert daran, dass Menschengr­uppen immer irgendwie organisier­t sind – selbstorga­nisiert recht selten, hierarchis­ch strukturie­rt viel häufiger.

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