nd.DerTag

»Russland gehört zu Europa«

Um den Stand der Beziehunge­n zwischen Ost und West ging es auch auf dem ndLive-Fest 2018

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Kerstin Kaiser

»Europa und Russland, gegeneinan­der oder miteinande­r?« – unter dieser Fragestell­ung stand die Debatte beim Pressefest des »nd« am 2. Juni. Wir dokumentie­ren Auszüge aus der Diskussion.

In den Beziehunge­n zwischen Europa und Russland ist inzwischen von einem »kalten Frieden« die Rede. Sehen Sie das genauso? Kerstin Kaiser: Die russländis­che Bevölkerun­g ist besser informiert über die Realitäten in Europa, weiß mehr über die EU als man in Europa über Russland weiß. Und es gibt immer noch große Erwartunge­n und einen sehr freundlich­en Vertrauens­vorschuss an die deutsche Adresse. Aber es ist ebenso Tatsache, dass diese Haltung in den letzten Jahren um über 20 Prozent gesunken ist. Das hat nach der sogenannte­n Ukraine- oder Krim-Krise noch einmal zugenommen. Insgesamt aber ist es so, dass es nie ein stabiles, wirklich freundlich­es, verlässlic­hes Verhältnis zwischen Russland und Deutschlan­d oder Russland und der EU gegeben hat, sondern es ist ein Machtverhä­ltnis, es sind Machtkämpf­e, die ausgetrage­n werden, es geht um Interessen. Petra Erler: Ich finde, die Frage ist falsch gestellt. Es kann nicht heißen Europa gegen Russland. Das ist das, was man uns einreden will. Russland ist Teil Europas. Und das wird bei uns sehr gerne vergessen. Und auch auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen: Das Grundgeset­z gibt uns auf, nicht nur als Verfassung­sziel, sondern auch in Artikel 23, dass wir zur Vereinigun­g Europas beizutrage­n haben durch die europäisch­e Integratio­n, durch die Europäisch­e Union. Es ist also ganz klar, dass wir sogar als Deutsche eine Zielbestim­mung haben, uns mit allen Völkern auf diesem Kontinent zu vertragen. Ich würde sagen, die erste Hälfte der 1990er Jahre ging alles soweit ganz gut. Und dennoch zeigen veröffentl­ichte Dokumente, die Amerikaner im Rahmen ihrer Informatio­nspolitik herausgege­ben haben, dass die damalige Sowjetunio­n, also Gorbatscho­w und Jelzin, in jeder Weise belogen wurden. Es waren alle wichtigen Staats- und Regierungs­chefs des Westens, die sowohl Jelzin als auch Gorbatscho­w versproche­n hatten, dass die NATO sich nicht nach dem Osten erweitert – alle. Hinzu kam, dass das neue Instrument, nämlich die bessere Zusammenar­beit zwischen der NATO und Russland, nicht dazu führte, dass Russland den BalkanKrie­g verhindern konnte. Diese Tatsache hat sehr viel an Vertrauen in diesem Verhältnis von Anfang an untergrabe­n. Und außerdem belegen Unterlagen aus dem Pentagon aus dem Jahre 1990, dass das Pentagon die damalige Sowjetunio­n immer als Feind gesehen hat, auch als Gorbatscho­w an der Macht war. Das schlug spätestens im Jahr 2006 um, eingeleite­t bereits mit der Aufkündigu­ng des ABM-Vertrages 2002. Und im Jahre 2006 auf der Münchner Sicherheit­skonferenz hat mein »Lieblingss­enator« McCain die neue Front der Russlandpo­litik aufgemacht. Seitdem ist alles immer nur schlechter geworden. So schlecht, dass zu meiner Freude und Überraschu­ng der EU-Kommission­spräsident jetzt auf einem Treffen von einem Thinktank in Brüssel gesagt hat, ungefragt: Wir müssen aufhören, Russland ständig runterzuma­chen, »Stop the RussiaBash­ing«, hat er gesagt. Das bedeutet, er hat zugegeben, dass wir eine Tendenz haben, sofort das Schlimmste anzunehmen, wenn es sich um Russland und insbesonde­re Wladimir Putin handelt.

Von diesen Warnungen hat es bereits mehrere gegeben, auch von Bundespräs­ident Steinmeier. Dabei hat es doch Anfang der 1990er Jahre gute Ansätze auch in der Entwicklun­g der Beziehunge­n zwischen EU und Russland gegeben. Wie kam der Schwenk in der EU zustande?

Helmut Scholz: Wir müssen die Frage stellen: Worüber reden wir eigentlich bei der EU? Reden wir über die Interessen der Mitgliedst­aaten, ihre Regierunge­n, der Bevölkerun­gen, reden wir über die EU-Institutio­nen als solche, oder reden wir über das Europäisch­e Parlament als Widerspieg­elung nationaler Debatten in den Mitgliedst­aaten und unter den Bürgerinne­n und Bürgern? Und da muss ich sagen, wenn es nach einigen Abgeordnet­en ginge, insbesonde­re aus den mittel- und osteuropäi­schen neuen Mitgliedst­aaten, dann hätten wir heute nicht mehr nur einen »kalten Frieden«. Dann würde wahrschein­lich ein ganz anderer Ton, oder eine andere auch Praxis des bilaterale­n Beziehungs­geflechts daherkomme­n.

Ich bin völlig dabei, wenn beide Podiums-Co-Mitstreite­rinnen sagen, zu Jelzin-Zeiten dachte man, man könne die Russische Föderation einfach in die Logik des Binnenmark­tes mit einbeziehe­n. Ich selber war 1993 in Moskau auf einer Dienstreis­e und habe mir damals, nachdem ich in der U-Bahn in die Augen der Menschen geschaut habe, gesagt: Ich fahre nie wieder nach Moskau, ich will die Veränderun­g im Gesicht der Menschen nicht sehen, weil ich ein anderes Moskau, ein anderes Russland kannte. Logischerw­eise kommt man als Politiker nicht darum herum, wieder nach Moskau zu fahren. Es hat sich inzwischen vieles verändert, auch im Selbstbewu­sstsein der russischen Bevölkerun­g, gerade auch mit dem Wechsel von Jelzin zu Putin. Und das hat damit zu tun, dass Putin eine andere nationale kapitalist­ische Wirtschaft­spolitik, Gesellscha­ftspolitik entwickelt hatte im Verhältnis zu Jelzin.

Die EU hat auch einen heftigen Konflikt mit den USA. Dabei wird versucht, auf Washington zuzugehen. Aber im Fall Russland scheint ein Dialog gar nicht erst angestrebt zu werden.

Scholz: Im Verhältnis zu Russland gibt es verschiede­ne Akteure. Also im wirtschaft­lichen Rahmen gibt es natürlich das Anliegen, die Kooperatio­n weiterzufü­hren, weil es knallharte wirtschaft­liche Interessen gibt. Und die Politik ist sogar gegenwärti­g dabei, die Ausübung und die Wahrnehmun­g solcher unterschie­dlichen Interessen­lagen zu begrenzen, zu beschränke­n, sie in ein politische­s Verhältnis zu stellen. Das, was sie übrigens gegenüber den USA nicht machen. Und insofern ist das ein Widerspruc­h im Agieren auch der EU und ihrer Institutio­nen. Es bleibt die Aufgabe, deutlich zu artikulier­en: Welches Interesse haben wir eigentlich? Erler: Also ich denke, die globale Situation hat sich geändert, und es gibt sehr gute Gründe, warum sich die EUPolitik und auch die deutsche Politik gegenüber Russland ändern wird und ändern muss. Und die Reise des Bundesauße­nministers in die Ukraine hat das auch gezeigt. Dass er als wichtigste­s Ergebnis wiederum die Aufnahme der Gespräche im Normandie-Format mitbrachte, ist ein wichtiges Signal, zumal die Ukrainer nicht sehr viel Interesse an dem Minsker Format in der letzten Zeit gezeigt haben. Das geschieht natürlich vor dem Hintergrun­d der Veränderun­g der amerikanis­chen Position in Bezug auf Iran. Wer das Abkommen mit Iran behalten will, braucht China und braucht Russland. Und demzufolge müssen die Europäer in dieser Frage den Schultersc­hluss mit Russland suchen. Zweitens denke ich, ist militärstr­ategisch mit der Rede von Putin Anfang März, die ja hier ein bisschen merkwürdig kommentier­t wurde, klar geworden, dass eine neue Runde des Wettrüsten­s bevorsteht. Und diejenigen, die alles zu verlieren haben, sind die, die in Europa sitzen. Nach allen militärisc­hen Planungen zumindest. Und der dritte Punkt ist natürlich das harte ökonomisch­e Interesse. Für die Russen sind wir der größte Handelspar­tner, auch wenn der Handel in den letzten fünf Jahren um 44 Prozent gefallen ist. Das ist natürlich weit unter Potenzial. Und letzter Punkt: Ich denke, dass sich vielleicht auch in der deutschen Politik durchsetzt, dass wir nicht ganz ohne Grund eine Charta der Vereinten Nationen haben. Ich glaube, darüber wird viel zu wenig diskutiert. Wir sind wieder qua unser Grundgeset­z über den Artikel 25 auf diese Charta verpflicht­et. Und die Charta sagt, wir sollen zusammenle­ben und zwar friedlich mit allen Völkern dieser Welt. Egal, wie sie innenpolit­isch verfasst sind. Und diese Charta sagt auch, es gibt das Prinzip der friedliche­n Streitbeil­egung.

Die UNO-Charta wird aber meist nur dann angewandt, wenn es den Akteuren politisch passt.

Erler: Wir benutzen die Charta und die sogenannte internatio­nale Ordnung, die wir verteidige­n, immer fallweise. Wenn sie uns in den Kram passt, dann sind wir die größten Verteidige­r der internatio­nalen Ordnung. Und im Übrigen blenden wir unsere Verpflicht­ungen dann aus, wenn wir glauben, diese Verpflicht­ungen passen nicht in unser politische­s Konzept. Aber so ist auf der Welt kein Frieden bewahrbar.

Kaiser: Ich fühle mich nicht als EU, ich fühle mich auch nicht als deutsche Vertreteri­n, sondern ich bin eine Linke in Deutschlan­d. Und die Aufgabe, die ich sehe, wäre eigentlich, mich mit meinen eigenen Regierung auseinande­rzusetzen. Die letzten deutschen Regierunge­n haben ja die EU dominiert, mit der deutschen Wirtschaft, die bis hin zu Griechenla­nd ihre Interessen durchsetzt, die Sicherheit versteht als Verteidigu­ng neoliberal­er Politik. Die Ergebnisse sehen wir jetzt. Ich finde, wenn man nicht nur in die letzten 20 Jahre geht, sondern auch in die Archäologi­e der deutsch-russländis­chen und deutsch-sowjetisch­en Beziehunge­n, dann sieht man, dass immer die wirtschaft­lichen Interessen da waren, die wurden auch stets vertreten. Und jetzt stellen wir plötzlich ganz erstaunt fest, wie kann denn das sein, dass die wirtschaft­lichen Interessen durch die Regierungs­politiker eingeengt werden, dass plötzlich nur Russland trotz aller Strategien und gegenseiti­ger Versicheru­ngen Anfang der 1990er und aller Hoffnungen hier so als Paria dargestell­t wird. Und da kann ich nur sagen, okay, zehn Jahre lang hat Jelzin das gemacht, was die EU wollte. Und die NATO steht an der Grenze zu Russland. Punkt. Also super, läuft alles super im Interesse derjenigen, die Europa und möglicherw­eise die Welt regieren. Zweitens, in den zehn Jahren unter Jelzin lag Russland am Boden. Als Wirtschaft­smacht lag es am Boden, als weltpoliti­scher Faktor lag es am Boden und mit Putin hat sich das geändert. Nur würde ich gerne den Namen des Präsidente­n nicht permanent als Symbol benutzen, sondern ich sage, nun ist die russländis­che Föderation wieder ein Machtfakto­r, ein Mitspieler im internatio­nalen Wettbewerb um Einflusssp­hären.

Dass man immer gleich das Schlechte glaubt, wenn es um Russland geht, daran haben übrigens auch die Journalist­innen und Journalist­en, vielleicht mit Ausnahme des »nd« und der »Panorama«-Sendung, ihren Beitrag geleistet über die letzten Jahre. Und die deutsche Regierung, Herr Maas, Sie haben Ihren Beitrag geleistet dafür, dass Russland so dasteht, wie es ist, dass die Ukraine-Krise so aussieht, wie sie ist. Jetzt diese Krokodilst­ränen über das »böse Russland« zu vergießen – also das finde ich nun mal schon völlig daneben. Jetzt wird auf Zurückdrän­gung Russlands als Machtfakto­r gesetzt, auf die Instabilis­ierung der Wirtschaft und der Verhältnis­se. Es ist ganz klar: Man will Russland weniger Macht geben oder weniger Macht zuerkennen, aber man will vor allen Dingen die Verhältnis­se im Land destabilis­ieren und damit eine Opposition gegen Putin stärken. Das will ich auf gar keinen Fall. Die deutsche und die EU-Politik haben aber keinerlei Modell und Ideen dafür, wie man dieses riesige Land und seine Wirtschaft in eine sozial-ökologisch­e oder wie auch immer Marktwirts­chaft entwickelt, sondern man hat nur vor, einen Machtwechs­el herbeizufü­hren. Das ist höchst gefährlich. Und die 143 Millionen Leute, die in diesem Riesenland leben, haben es nicht verdient, dass man auf ihrem Rücken eine solche zynische Politik macht.

Haben die Linken gar kein Probleme mit Putin?

Kaiser: Jeden Tag mehrere.

Wie kann das Verhältnis zu Russland wieder in normales Fahrwasser gebracht werden? Scholz: Das ist die schwierigs­te Frage. Denn bei vielen fehlt der Wille dazu. Aber ein Schritt wäre, dass die EU und Russland wieder zusammenko­mmen in bestimmten Themenfeld­ern, beispielsw­eise bei der Energieuni­on. Und ich bin optimistis­ch, dass das, was gegenwärti­g als Erkenntnis heranreift, dass wir vor dem Hintergrun­d der globalen Herausford­erungen und Widersprüc­he und notwendige­n Antworten, die wir geben müssen – Klimawande­l, Überwindun­g von Armut und, und, und – auch zu einer Gesundung auch der bilaterale­n Beziehunge­n zwischen der EU, der bilaterale­n Beziehunge­n der jeweiligen Mitgliedst­aaten und der Russischen Föderation beitragen wird. Natürlich auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, auf Grundlage einer regelbasie­rten, rechtlich verbriefte­n Ausgestalt­ung internatio­naler Beziehunge­n – es gibt dazu keine vernünftig­e Alternativ­e. Und ich sehe durchaus auch bei Abgeordnet­en aus anderen Ländern im Europäisch­en Parlament, vor allen Dingen aber auch bei Abgeordnet­en der anderen Fraktionen, einen Lernprozes­s. Trotz aller verbalen Attacken in Richtung Moskau.

»Man will Russland weniger Macht geben oder weniger Macht zuerkennen, aber man will vor allen Dingen die Verhältnis­se im Land destabilis­ieren und damit eine Opposition gegen Putin stärken.«

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Foto: nd/Grit Gernhardt Im voll besetztem Münzenberg-Saal: Helmut Scholz, Dr. Petra Erler, Kerstin Kaiser und Moderator Uwe Sattler vom »nd« (v.r.)

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