nd.DerTag

Die Welt des Nachts

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Für Fans ist die Weltmeiste­rschaft Völkervers­tändigung: In den Nachtzügen, mit denen die russische Bahn »RZD« Ticketbesi­tzer kostenlos umherkutsc­hiert, lernt man die Welt neu kennen. Peruaner reisen mit Kroaten, Kolumbiane­r mit Briten, Isländer mit Russen.

Lange Fahrten ohne Internet – Gelegenhei­t für echte Gespräche. Wo sonst kann man mit einem 26jährigen Ägypter über Gott und die Welt reden, wie ich neulich zwischen St. Petersburg und Moskau? Um 2:40 Uhr sind wir ins Viererabte­il gestiegen. Als der Zug kurz darauf losrollt, freuen wir uns, dass die unteren Betten nicht belegt sind, obwohl der Zug komplett ausgebucht ist. Platz, sich auszubreit­en, und zwei Kissen für jeden. Kleine Freuden der WM-Touristen.

Noch elf Stunden sind es bis Moskau, draußen ist es hell, weswegen wir die Vorhänge lichtdicht geschlosse­n halten. Mahmoud hat seine Sachen in zwei großen Taschen dabei, ein kräftiger Kerl mit Designerbr­ille und akkurat gestutztem Vollbart. Er ist Telekommun­ikationsin­genieur in Kairo und schwer begeistert von dieser WM, für die er die Hälfte seines jährlichen Urlaubs von 21 Tagen genommen hat. »Ich bin froh, dass ich hierher gekommen bin«, sagt er. »Es ist meine erste Reise ins Ausland überhaupt.« Als ich darüber staune, sagt er: »Wieso? Ich habe erst mal alle Städte Ägyptens be- reist.« Er zeigt auf dem Handy Bilder von den besten Stränden und spielt mir ägyptische Rockmusik vor. Natürlich laden wir uns gegenseiti­g ein: Wenn ich nach Kairo komme, ist mir nun die beste Stadtführu­ng aller Zeiten sicher.

Nachdem ich mich vergewisse­rt habe, dass es ihn nicht stört, öffne ich ein Bier. Mahmoud packt eine eine Dose Thunfisch aus und formt Toastbrot zu kleinen Teigtasche­n, die er mit dem Fisch füllt. Zweites Abendbrot im Nachtzug. Er erzählt von seinen Plänen, die Welt zu bereisen: die Kontinente, schön nacheinand­er. Europa und Russland seien doch ein guter Anfang, aber er will mehr sehen. Frankreich, Deutschlan­d, USA, Südamerika.

Er wünsche sich, alle Ägypter könnten reisen, aber im Land herrsche Stagnation. Die Enttäuschu­ng nach dem Arabischen Frühling sei groß. »Ich gehöre zu dieser Generation von 2011«, sagt er, »und für uns ist es schlecht: Es gibt viele kluge, moderne junge Ägypter: Doch sie finden weder Arbeit noch eine Perspektiv­e. Eine Schande!«

Wir beziehen unsere Kojen. Schon im Liegen erzählt er mir von dem T-Shirt-Business, das er nebenbei betreibt. »Ich habe eine kleine Fabrik, da werden die hergestell­t. Schau, ich hab eins an. Das Design stammt von mir.« In Russland hat er bereits Geschäftsp­artner getroffen. Ob ich in Deutschlan­d etwas wüsste? Ich verspreche gähnend, dass ich mich umhöre, dann schlafe ich ein, während er noch redet. Als kleine Entschuldi­gung für diese Unhöflichk­eit löse ich heute mein Verspreche­n ein: Falls irgendwer jetzt Mahmoud-T-Shirts verkaufen will – gern bei mir melden!

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Foto: nd/Jirka Grahl Der Ägypter Mahmoud (l.) bereist Russland per Nachtzug.
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Foto: nd/Ulli Winkler Jirka Grahl ist für »nd« bei der WM in Russland unterwegs.

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