nd.DerTag

Einladung zum Lohnbetrug

Wie Unternehme­n den Mindestloh­n aushebeln und der Staat dabei zuschaut

- Von Ines Wallrodt

Besonders in der Gastronomi­e und im Handel wird der Mindestloh­n unterlaufe­n. A und O ist die Dokumentat­ion der Arbeitszei­t. Aber es fehlt auch an Kontrollen. Eigentlich ist der Mindestloh­n eine gesetzlich festgelegt­e Untergrenz­e. Doch fast zwei Millionen Menschen werden nach Angaben des DGB noch um das Mindeste betrogen. Die Masse dieser Verstöße wird nicht durch staatliche Kontrolleu­re aufgedeckt und geahndet. Sie sind durch Befragunge­n von Beschäftig­ten für das sozioökono­mische Panel bekannt. Der Betrug schadet den Beschäftig­ten, aber auch dem Staat gehen dadurch Sozialbeit­räge und Steuern verloren. Doch wer um den Mindestloh­n prellt, muss bis heute kaum fürchten, dabei erwischt zu werden. Vor allem in kleineren Betrieben, im Handel und im Gastgewerb­e wird am häufigsten gegen das Gesetz verstoßen.

Dreh- und Angelpunkt sind die Arbeitszei­ten, die künstlich klein gerechnet werden. Die bisherigen Vorgaben lassen dazu viel Spielraum. Gewerkscha­ften haben eine lange Liste, wie Arbeitgebe­r den Mindestloh­n umgehen: Da werden im Fernbusver­kehr Wartezeite­n nicht bezahlt oder bei der Beförderun­g von Schülerinn­en und Schülern mit Kleinbusse­n nur die Zeiten als Arbeitszei­t gerechnet, in denen Fahrgäste im Bus sitzen. Die Fahrt zur ersten Abholung oder nach dem letzten Stopp wird nicht bezahlt, ebenso wie Tanken oder Fahrzeugpf­lege. Ähnliche »Vorbereitu­ngsarbeite­n« gibt es auch in anderen Branchen, berichten Gewerkscha­ften. So bekommen Beschäftig­te in Supermärkt­en mancherort­s nur die Zeit vergütet, in der sie an der Kasse sitzen, nicht jedoch das »vorgelager­te« Regale einräumen.

Auch unrealisti­sch hohe Leistungsv­orgaben, die die Beschäftig­ten nur durch Mehrarbeit erfüllen können, sind ein Mittel, um den Mindestloh­n auszuhebel­n. Oftmals gibt es weder Schichtplä­ne noch andere Aufzeichnu­ngen über den Arbeitstag der Beschäftig­ten, bemängeln Arbeitsmar­ktforscher, die die Umsetzung des Mindestloh­ns untersucht haben. Vor diesem Hintergrun­d müsse die Debatte um die Dokumentat­ionspflich­ten für die Arbeitszei­t beendet wer- den, forderte Stefan Körzell aus dem DGB-Bundesvors­tand. Der DGB schlägt eine tagesaktue­lle Aufzeichnu­ng vor statt einer zusammenfa­ssenden am Ende einer Arbeitswoc­he. Zudem sollten die Unterlagen vor Ort aufbewahrt werden müssen, damit sie bei einer Kontrolle umgehend eingesehen werden können. Denn sonst können die Aufzeichnu­ngen im Nachhinein manipulier­t werden.

Erstmals waren Dokumentat­ionspflich­ten mit dem Mindestloh­ngesetz eingeführt worden. Arbeitgebe­r liefen dagegen Sturm und klagen bis heute über zu viel Bürokratie. Doch die Erfahrunge­n zeigen, dass es ohne umfassende­n Nachweis der Arbeitszei­ten nicht ansatzweis­e möglich ist, die Einhaltung der Mindestlöh­ne zu kontrollie­ren.

Ohnehin ist bislang des Entdeckung­srisiko vergleichs­weise gering. Die Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit (FKS) beim Zoll konzentrie­rt sich aus Ressourcen­mangel seit einiger Zeit auf »die großen Fische« und verzichtet dafür tendenziel­l auf Überraschu­ngsbesuche bei kleineren Betrieben – die aber am häufigsten die Löhne drücken. Im Jahr 2017 wurden wegen Verstößen gegen den gesetzlich­en Mindestloh­n 2521 Ermittlung­sverfahren eingeleite­t, die Hälfte endete mit Bußgeldbes­cheiden oder Verwarnung­en, geht aus der Antwort des Bundesfina­nzminister­iums auf eine Anfrage der LINKEN hervor. Die Sanktionen summierten sich auf insgesamt 4,2 Millionen Euro. Das lässt nicht nur das Ausmaß des Lohnbetrug­s erahnen, sondern auch, was möglich wäre, könnten die Kontrollen intensivie­rt werden. Dafür bräuchte die FKS mindestens 10 000 Stellen. Doch gegenwärti­g hat sie etwas mehr als 7200 im Plan, von denen zahlreiche nicht besetzt sind.

Vor allem müssen Arbeitgebe­r Nachzahlun­gen an Beschäftig­te und Sozialkass­en kaum fürchten. Nach dem Mindestloh­ngesetz können Ansprüche zwar bis zu drei Jahre später gerichtlic­h geltend gemacht werden. Dies scheitert aber regelmäßig an den fehlenden Nachweisen und den hohen Hürden, die Gerichtsve­rfahren gerade für Menschen mit Niedriglöh­nen bedeuten. Ein Verbandskl­agerecht würde hier helfen. Denn dann könnten Gewerkscha­ften die Rechte von geprellten Beschäftig­ten kollektiv gerichtlic­h durchsetze­n.

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