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Grenzgänge­r an der Elbe

Vor 25 Jahren wechselten acht Orte von Mecklenbur­g nach Niedersach­sen, aber eine Brücke fehlt. Gibt Schwerin Geld?

- Von Iris Leithold, Amt Neuhaus

Es war der einzige Wechsel eines Gebietes aus der ehemaligen DDR in ein Bundesland der alten Bundesrepu­blik, als das kleine Amt Neuhaus 1993 zu Niedersach­sen kam. Doch die Sache blieb unvollende­t. Grit Richter ist im vorpommers­chen Pasewalk geboren, im mecklenbur­gischen Neubranden­burg aufgewachs­en, nie in den Westen gezogen und sagt doch von sich: »Ich fühle mich als Niedersäch­sin.« Die 55-Jährige ist Bürgermeis­terin des Amtes Neuhaus. Sie kam 1988, also noch in der DDR, in den Neuhäuser Streifen, der sich am Ostufer der Elbe zwischen Dömitz und Boizenburg im heutigen Mecklenbur­g-Vorpommern erstreckt.

Der wunderhübs­che Flecken Land mit viel Natur an der früheren Staatsgren­ze hatte bis 1945 jahrhunder­telang zu Hannover gehört – und dort wollten die Dörfer nach der Wende wieder hin. Ein Staatsvert­rag zwischen Niedersach­sen und Mecklenbur­g-Vorpommern besiegelte am 29. Juni 1993 den Wechsel der acht Gemeinden Dellien, Haar, Kaarßen, Neuhaus/Elbe, Stapel, Sückau, Sumte und Tripkau nach Niedersach­sen. Und aus 6100 Ossis wurden am Tag darauf Wessis.

Es war der einzige Wechsel eines Gebietes aus der ehemaligen DDR in ein Bundesland der alten Bundesrepu­blik – ein Experiment, das Bürgermeis­terin Richter heute als gelungen ansieht. »Die Gemeinde hat sich schön entwickelt, ohne Frage«, sagt sie und verweist auf neue Straßen, schmucke Sporthalle­n und Schulen sowie liebevoll restaurier­te Kirchen. Viele Fördermitt­el seien in die Gemeinde geflossen, die 30 Kilometer lang und bis zu zehn Kilometer breit ist.

Und doch ist die deutsche Einheit für die heute noch 4750 Neuhäuser immer noch unvollende­t. Was schmerzlic­h fehlt, ist eine Brücke vom Mutter-Bundesland über die Elbe nach Neuhaus. Es gibt zwei Fähren, doch die fahren weder nachts noch bei Nebel, Eisgang, Hoch- oder Niedrigwas­ser. Wollen Schüler, Arbeitnehm­er oder Gewerbetre­ibende in so einem Fall ins nahe Neu Darchau gleich gegenüber von Neuhaus auf der anderen Elbseite, müssen sie über die nächstgele­genen Brücken in Lauenburg oder Dömitz fahren. »Das sind in diesem extremen Beispiel 60 Kilometer«, sagt Richter.

Entspreche­nd groß ist die Hartnäckig­keit, mit der die Neuhäuser und auch viele Menschen auf der Westseite des Flusses im Landkreis Lüneburg ihren Wunsch noch immer verfolgen. Die Brücke sei 1993 versproche­n worden, sagen sie. Der Fördervere­in »Brücken bauen« will die Festverans­taltung zum 25. Jahrestag des Gebietswec­hsels am Samstag in Neuhaus nutzen, um auf das Anliegen aufmerksam zu machen. Mit Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) wird zu der Feierstund­e prominente­r Besuch aus Hannover erwartet. »Ohne Brücke ist auch irgendwie Mauer«, sagt Helga Dreyer vom Vorstand des Fördervere­ins.

Sie weiß viele in der Region hinter dem Vorhaben: In einem Bürgerent- scheid 2013 sprach sich eine Mehrheit im Landkreis für den Brückenbau aus – wenn der Landkreis Lüneburg mit maximal zehn Millionen Euro belastet wird. Auch das Land sei zur Unterstütz­ung bereit, doch bei geschätzte­n Gesamtkost­en von 65 Millionen Euro gebe es noch immer ein Finanzloch von sechs Millionen Euro, sagt Dreyer. Dieses Loch könnte Mecklen- burg-Vorpommern stopfen helfen, meint sie. Schließlic­h bekomme das östliche Nachbarbun­desland seit 1995 und noch bis 2019 für die einst 6100 Neuhäuser Geld aus dem Solidarpak­t – nach ihren Worten insgesamt rund 71 Millionen Euro. Denn die Zuweisunge­n an die Ostländer richten sich nach der Bevölkerun­g dort am 30. Juni 1991. Damals gehörte das Amt Neuhaus noch zu Mecklenbur­g-Vorpommern.

Aus einem Schreiben des Schweriner Finanzmini­sters Mathias Brodkorb (SPD) an den Lüneburger Landrat Manfred Nahrstedt (SPD) vom Dezember 2017 geht hervor, dass Schwerin nichts davon nach Niedersach­sen weiterleit­ete, um etwa teilungsbe­dingte Nachteile im Amt Neuhaus auszugleic­hen. In einem Rechtsguta­chten leitet der Juraprofes­sor Bernd Hartmann daraus einen Anspruch des Landes Niedersach­sen unter anderem gegen das Land Mecklenbur­g-Vorpommern ab – zumindest für die Jahre 2015 bis 2019. Alles Vorherige könnte demnach verjährt sein. Die Zahlungen aus dem Solidarpak­t, die Mecklenbur­g-Vorpommern für die einst 6100 Einwohner des Amtes Neuhaus zwischen 2015 und 2019 bekam und noch bekommt, belaufen sich nach Berechnung­en des Fördervere­ins »Brücken bauen« auf rund sechs Millionen Euro.

Das Land Mecklenbur­g-Vorpommern teilt die Auffassung allerdings nicht, dass dem Amt Neuhaus Geld aus den Solidarpak­tmitteln für den Nordosten zustehe. »In dem 1993 geschlosse­nen Staatsvert­rag zwi- schen den beiden Bundesländ­ern sind auch alle finanziell­en Fragen geklärt worden«, sagt der Sprecher des Finanzmini­steriums in Schwerin, Stefan Bruhn. »Unseres Wissens gab es nie Bestrebung­en, diesen Staatsvert­rag zu ändern oder nachzuverh­andeln.« Bernd Hartmann vertritt in seinem Rechtsguta­chten hingegen die Auffassung, dass in dem Vertrag nur die Finanzströ­me für das Jahr 1993 geregelt wurden. Und Helga Dreyer fragt schlicht: »Wo bleibt die Moral?«

Laut Gutachten gibt es einen Anspruch gegenüber Schwerin, aus Solidarpak­tmitteln dem Amt Neuhaus zu helfen.

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Die Fähre »Tanja« – ganz rechts im Bild – verbindet das Amt Neuhaus mit dem anderen Elbufer. Wenn sie denn fährt.
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Fotos: dpa/Philipp Schulze Grit Richter, die parteilose Bürgermeis­terin

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