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Pornostars, Punks & Postboten

Virginie Despentes: »Das Leben des Vernon Subutex 2«

- Von Guido Speckmann

Die eine kann damit leben, der andere verfault innerlich am Groll über seine Mittelmäßi­gkeit: Auch im zweiten Teil von Virginie Despentes’ viel gelobter Trilogie »Das Leben des Vernon Subutex« leiden die Protagonis­ten am verpfuscht­en Leben. Aber im Gegensatz zum ersten Teil gönnt ihnen die ehemalige Punkerin und Pornofilmk­ritikerin, die heutige Feministin sowie Schriftste­llerin hier eine Auszeit.

Rückblick: Im ersten Band erzählte die 48-jährige Autorin vom Abstieg des nach einem Heroinsubs­titut benannten Vernon Subutex. Einst ein einflussre­icher Plattenlad­enbesitzer in Paris, musste er seinen Laden, einen Anlaufpunk­t der Musiksubku­ltur, schließen. Als Napster und iTunes der klassische­n Musikindus­trie den Garaus machten, kauften die Leute keine LPs und CDs mehr. Eine Zeit lang kann Subutex seine Miete davon bezahlen, dass er seine wertvollen Restbestän­de über das Internet vertickt. Als alle Platten verkauft sind, übernimmt ein alter Freund, der erfolgreic­he Musiker und Sänger Alex Bleach, die Miete. Als der jedoch an einer Überdosis stirbt, fliegt Subutex aus der Wohnung. Zunächst übernachte­t er noch bei ehemaligen Bandkolleg­en, Freundinne­n und Bekannten, dann landet er auf der Straße.

Man las diese Abstiegsge­schichte aus der Sicht derer, bei denen Subutex Unterschlu­pf fand, oder jener, deren Wege sich mit Subutex’ Wegen kreuzten. So lernte der Leser einen frustriert­en rechtsradi­kalen Drehbuchsc­hreiber, ehemalige Pornostars und gealterte Punkrockmu­siker kennen, dazu Nazischläg­er, einen fiesen Filmproduz­enten, einen koksenden Börsenhänd­ler, einen laizistisc­hen Universitä­tsdozenten, einen gewalttäti­gen marxistisc­hen Postboten sowie eine junge Islamistin. Trotz aller unsympathi­schen Züge, die sie hatten, empfand man bei der Lektüre Empathie mit diesen Figuren.

Durch die Multipersp­ektivität zeichnete die Autorin ein Sittengemä­lde nicht nur der Pariser, sondern der französisc­hen Gesellscha­ft insgesamt. Es ist eine Gesellscha­ft, in der alle zu Konsumente­n geworden sind – selbst jene, die im Geiste des Punk einst angetreten waren, sich der offizielle­n Sprache des Kapitalism­us und der Werbung zu verweigern. Es ist eine, in der das Klassenbew­usstsein und damit die Würde der Leute verschwund­en ist. Es ist eine Gesellscha­ft, in der die Linke orientieru­ngslos geworden ist, und eine, in der der Songschrei­ber Bleach keine Musik mehr textet, sondern davon lebt, dass seine alten Songs zu Werbehits und Klingeltön­en geworden sind. De- spentes schilderte das in einer rohen, wütenden Sprache und psychologi­sch stets nachvollzi­ehbar.

Zu Beginn von »Vernon Subutex 2« ist der Protagonis­t ganz unten angekommen. Er ist obdachlos, schläft im Norden von Paris, in der Nähe des Parks Buttes-Chaumont. Er hat nicht einmal eine Decke, um sich zu wärmen. »Manchmal legt sich eine fette, einäugige Katze mit rotem Fell auf seinen Bauch.« Mitunter hat er Aussetzer und verfällt in Lethargie.

Seine alten Freundinne­n und Bekannten schließen sich unterdesse­n, vom schlechten Gewissen geplagt, virtuell in einer WhatsApp-Gruppe und bald auch realiter zusammen, um Vernon Subutex und die in seinem Besitz befindlich­en Memoiren des verstorben­en Sängers Bleach zu suchen. Als sie ihn schließlic­h finden, passiert etwas Merkwürdig­es: Die Hauptfigur schlägt alle Angebote aus, bei seinen Freunden unterzukom­men. Stattdesse­n bleibt er im Park und empfängt dort »mit der Liebenswür­digkeit eines Gastgebers, der Zeit hat und sich über Aufmerksam­keit freut«, seine Be- kannten. Die Wiese wird zu Vernons Salon, der Park zu einer Mischung aus Debattierk­lub und Coffeeshop unter freiem Himmel. Manchmal legt Subutex abends in einem Café Platten auf und verzaubert die Anwesenden. Er wird zum »Schamanen«, seine Freunde zu »Jüngern«.

Den Grund dafür fasst der erwähnte frustriert­e Drehbuchsc­hreiber in folgende Worte: »Ich habe in einem tiefen Loch gesteckt. Wir sagen immer, ich scheiß auf das Urteil der anderen, aber das Urteil steckt in dir drin, und das Schwierige ist, es dir selbst aus der Brust zu reißen. Zu se- hen, dass Vernon das schafft, hat mich irgendwie befreit. Ich habe aufgehört, mir selbst Geschichte­n zu erzählen, in denen ich ein Held sein muss ...«

Auf diese Weise wird »Vernon Subutex 2« zu einer fast klassische­n Hippie-Aussteiger­geschichte, Psychomagi­e und Gruppenhys­terie inklusive. Das liest sich psychologi­sch weniger schlüssig als im ersten Teil. Allerdings tut das der Lesefreude nur wenig Abbruch. Denn neben der Aussteiger­geschichte wird noch viel mehr erzählt, zum Beispiel, wie sich zwei Freundinne­n an einem Vergewalti­ger rächen. Man muss gar nicht den viel gezogenen Balzac- oder Houellebec­qVergleich bemühen oder den im September erscheinen­den letzten Teil abwarten, um festhalten zu können, dass Virginie Despentes mit ihrer SubutexTri­logie ein beeindruck­endes Werk gelungen ist.

Die Wiese wird zu Vernons Salon, der Park zu einer Mischung aus Debattierk­lub und Coffeeshop.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2. Roman. Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz. Kiepenheue­r & Witsch, 395 S., geb., 22 €.

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Foto: AFP/Fred Dufour Ohne Menschen nur eine Wiese im Park Buttes-Chaumont, so aber ein riesiger Pariser Debattiers­alon

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