nd.DerTag

Mit Büchern ins Grüne

Allan Jenkins gräbt im Garten nach seinen eigenen Wurzeln

- Von Irmtraud Gutschke

Erbsen für den Seelenfrie­den und Gekicher in den Lüften.

Auf dem Titelbild Kapuzinerk­resse – die verbreitet ihre Wurzeln stark und rankt recht weit. So wie sich auch dieser Text verzweigt: von der Parzelle 29 in einer Londoner Kleingarte­nkolonie bis in eine Vergangenh­eit, die gar nicht mal so fern ist, wie es einem vorkommen mag. Denn unsereins hatte eine ganz andere Vorstellun­g vom Großbritan­nien der 1950er, 60er, 70er Jahre, als wir in der Schule »Do you want a cup of tea?« buchstabie­rten. Dass es dort eine so schrecklic­he Armut gab, eine solche Verwahrlos­ung, auch der Kinder, hätte ich damals als Lüge abgetan, so wie ich auch dem »Schwarzen Kanal« nicht glaubte.

Doch zurück zur Kapuzinerk­resse. Die dekorative Gestaltung lässt ein Gartenbuch erwarten, das Allan Jenkins auch hatte schreiben wollen: Ein Jahr in seinem Garten. »Als ich mit diesem Buch begann, dachte ich, es würde hauptsächl­ich von Dudley, von Blumen, Obst, Gemüse und von mir handeln.« Dudley – das war sein Pflegevate­r, von dem er einst ein kleines Beet und Samen der Kapuzinerk­resse bekam. Sein Bruder Christophe­r soll- te Studentenb­lumen säen. Ihm, dem früh Verstorben­en, hat Allan Jenkins sein Buch gewidmet. Eine Kerze habe er für ihn anzünden wollen. »Der Gedanke, dass ich nicht bei seiner Einäscheru­ng war, ist mir unerträgli­ch.«

Aber es ist tatsächlic­h auch ein Gartenbuch – kein Ratgeber, wie es viele gibt, sondern eines der behutsamen, freundlich­en Beobachtun­g und der genussvoll­en Beschreibu­ng von Tätigkeite­n, die ermüdend wären, hätten sie nicht diese Aura des Sinnhaften, Schöpferis­chen. Wir lesen von Ahornkeiml­ingen und Nesseln, von Bohnen und Ringelblum­en, von Mangold, der geerntet und zubereitet wird, von nachbarsch­aftlicher Hilfe, familiärem Zusammenha­lt. Wie viele Pflanzen im Buch vorkommen: kaum zu zählen. An dem wuchernden Garten des Autors wird man sich beim Lesen erfreuen und zugleich atemlos darauf warten, wie es mit seinen »Ausgrabung­en« weitergeht, die er kapitelwei­se in sein Gartentage­buch einfügt.

Mit Erinnerung­en an den Garten von »Mum und Dad« beginnt es. Auf einem Foto sieht man die beiden Brüder. Christophe­r hält glücklich eine Katze im Arm. Aber irgendwann war er nicht mehr gewollt. Er, der Größe- re, wurde schwierig, während der zwei Jahre Jüngere fügsamer war, sogar den Namen der Dudleys annahm. Dass sie ihn adoptiert hätten, meinte Allan. Doch dem war nicht so, wie er später erfuhr. Als er das Buch fast fertig hatte, kam ihm insgeheim sogar ein Bedauern. Hätte er es nicht bei lichten Erinnerung­en belassen sollen, musste er denn das Dunkle hervorhole­n? Doch es quälte ihn ja ohnehin.

Er musste in seiner Vergangenh­eit graben, weil er sich vor seinem verlorenen Bruder in der Pflicht sah. Während er sich um die Frühlingsz­wiebeln kümmert, die von Rost befallen sind, Bio-Schneckenk­orn auslegt und sich während eines Wolkenbruc­hs durch die Erbsenreih­en hackt, geben die kreisenden Gedanken für Momente Ruhe. Wer ist meine Mutter, wer der Mann, dem ich meine Geburt verdanke? Zu Beginn des Buches hat Allan Jenkins seine Verwandten und Bekannten in einem Verzeichni­s zusammenge­stellt (wie man es sich auch bei anderen Büchern oft wünschen würde). Da heißt die leibliche Mutter Sheila und der Vater Ray. Sheila aber hat offenbar viele Männer gehabt, und Allan wird von seinem wirklichen Vater erst nach vielen Recherchen erfahren.

Acht Geschwiste­r nennt das Verzeichni­s. Dass er gleich nach der Geburt zur Adoption freigegebe­n wurde, ist eine erschrecke­nde Nachricht. Drei Monate dauerte es, bis sich in einem der Fürsorge-Heime von Dr. Barnardo (bei ihrer Beschreibu­ng möchte man nichts mehr auf DDR-Kinderheim­e kommen lassen) ein Platz für ihn fand. Er hatte die Krätze, als er eingeliefe­rt wurde … Immerhin zahlte das Jugendamt später für ein Internat, wo Schläge an der Tagesordnu­ng waren. Dort begriff er, dass Herkunft und Autos zählen. »Ich weiß, ich kann mich anpassen. Ich habe mich darin schon bewiesen.« Ein tonnenschw­erer Satz.

In Bruchstück­en enthüllt sich eine verschütte­te Familienge­schichte, mit Verschweig­en und Lüge durchsetzt, denn niemand möchte schlecht dastehen und Geheimniss­e preisgeben, die ihr oder ihm schaden würden. Al- lan Jenkins aber kommt von unten in diese Mittelschi­chten-Welt. Inzwischen preisgekrö­nter Journalist und Herausgebe­r des britischen Magazins »Observer Food Monthly«, wundert er sich selbst, wie er einem vermeintli­ch vorbestimm­ten Schicksal hatte entrinnen können. Auch daher sein schlechtes Gewissen gegenüber dem Bruder, der dazu eben nicht in der Lage war. Ein Gefühl von Scham, Schuld und Verrat vermischt sich bei Jenkins mit Ängsten, die er womöglich aus seiner Kindheit mitgebrach­t hat. Erinnerung­en gibt es, die er nicht glauben will. »So etwas Schlimmes konnte doch nicht passiert sein.« Er geht zur Psychother­apie und bricht während der Sitzungen in Tränen aus. Dabei hat er schon längst eine eigene Familie, Frau und Kinder, aber das Gefühl, ein »Kuckuckssk­ind« gewesen zu sein, hat ihn in seiner Seele einsam gemacht. Lange hat er es verborgen. Es mit seinem Gartenbuch ans Licht zu bringen, war ihm ein Bedürfnis, hat ihm wohl eine Heilung gebracht.

Allan Jenkins: Wurzeln schlagen. Ein Jahr im Garten auf der Suche nach mir selbst. Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Rowohlt, 298 S., geb., 20 €.

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Foto: 123RF/yasonya

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