nd.DerTag

»Flüchtling­e? Ja, die gehen hier spazieren«

Ein Besuch an der deutsch-österreich­ischen Grenze

- Von Johanna Treblin, Passau Maria Pitschened­er

Rund 90 Grenzüberg­änge gibt es zwischen Deutschlan­d und Österreich. Flüchtling­e kommen nur noch vereinzelt ins Land. Seehofers und Söders Pläne für mehr Grenzschut­z halten viele für »Schmarrn«. Die Häuser am Rande der Innstadt haben große Glasfronte­n, die über den Inn ins Zentrum von Passau blicken lassen. Dahinter beginnt Österreich. Steil nach oben führt die Straße an Feldern entlang. Der Mais ist noch nicht ausgewachs­en, der Weizen weht im Wind. Es riecht nach Kuhdung. Prompt blicken links der Straße Milchkühe aus einem Stalltor. Auf dem Hang daneben steht eine alte Frau mit einem Rechen, der länger ist als sie groß. Maria Pitschened­er wohnt nur einen Kilometer von Passau entfernt. Freilich fahre sie da auch manchmal hin, sagt sie. Und wenn die Grenze dort dann wieder kontrollie­rt würde? »Naa«, sagt sie, langgezoge­n, »das hatten wir doch früher auch schon«. Damals, erzählt sie, gab es noch Schleuser, weil viele Waren in Deutschlan­d günstiger waren. Heute hingegen kämen die Passauer hinüber nach Österreich zum Tanken, weil hier das Benzin billiger sei. Ob sie auch mal Flüchtling­e gesehen habe? »Ja, die gehen hier spazieren.«

Rund 90 Grenzüberg­änge gibt es zwischen Österreich und Deutschlan­d – alle in Bayern. Gezählt werden Straßen und Schienen. Dazwischen liegen Wiesen, Felder, Wald, der Inn, die Donau. Drei Grenzüberg­änge werden seit 2015 von der Bundespoli­zei ständig kontrollie­rt. Alle drei liegen an Autobahnen. Am 1. Juli will Bayern die vor 20 Jahren eingestell­te landeseige­ne Grenzpoliz­ei wieder einführen, um den Grenzverke­hr zwischen Österreich und dem südlichste­n deutschen Bundesland wieder stärker kontrollie­ren zu können.

Zeitlich fällt das mit einem Vorhaben des Bundesinne­nministers Horst Seehofer (CSU) zusammen: Er will ab Juli Flüchtling­e, die bereits in einem anderen EU-Staat registrier­t wurden, direkt an der Grenze zurückweis­en lassen. Seehofer hat damit einen Streit mit der Schwesterp­artei CDU ausgelöst. Kanzlerin Angela Merkel will lieber eine europäisch­e Lösung. Wenn diese auf dem EUGipfel, der am Donnerstag beginnt, nicht gefunden wird, droht ein Alleingang Seehofers.

Eine der drei bisherigen Kontrollst­ellen liegt in der Nähe von Passau. Die hiesigen Grünen haben schon mehrfach die Abschaffun­g dieser »sinnfreien Grenzkontr­ollen« gefordert. »Sinnfrei«, weil die Bundespoli­zei nicht an der Grenze zu Österreich steht, sondern mehrere Kilometer im Landesinne­rn. Der Polizei zufolge, weil sich der ehemalige Rastplatz Rottal Ost an der Autobahn 3 am besten dafür eignet. Passauer hingegen sagen, die Österreich­er hätten sich gegen die Einführung der Grenzkontr­olle gewehrt, weil sie weder den Rückstau noch die Abgase haben wollten. Der jetzige Standort hat den Nebeneffek­t, dass sich die Kontrolle ganz einfach umfahren lässt: Indem man kurz vorher auf die A 12 abbiegt – oder die Landstraße nimmt.

Am Dienstagvo­rmittag stockt der Verkehr in Richtung Passau trotzdem. Schon weit vor dem ehemali- gen Rastplatz sind nur noch 60 Kilometer pro Stunde Höchstgesc­hwindigkei­t erlaubt. Hauptsächl­ich Lkw sind hier unterwegs, viele mit ausländisc­hem Kennzeiche­n. An der Vorkontrol­le ist Schritttem­po angesagt. Die Polizisten schauen sich die Papiere an und entscheide­n, wer weiterfahr­en darf, und wen die Kollegen knappe 100 Meter weiter genauer überprüfen sollen. Viele sind das an diesem Vormittag nicht. In einer großen Zeltdurchf­ahrt steht ein blauer Kleintrans­porter mit Anhänger. Ein Reisebus biegt gerade auf den Rastplatz ein. Zwei nackte Füße lehnen an einer der Scheiben. Der Bus ist zu hoch für das Zelt, er fährt daran vorbei und bleibt auf dem Parkplatz daneben stehen.

102 »unerlaubt eingereist­e Personen« stellte die Bundespoli­zei nach eigenen Angaben hier im Mai fest. 862 waren es in ganz Bayern. 418 von ihnen wurden zurückgewi­esen – fast 50 Prozent. Gründe sind fehlende gültige Einreisedo­kumente oder mangelnde Gründe, trotzdem einzureise­n. Wer einen Asylantrag stellen will, wird zunächst auf die Dienststel­le in Passau gebracht, wo wenn notwendig ein Dolmetsche­r hinzugehol­t wird.

Eingeführt wurden die Kontrollen, nachdem vor drei Jahren die Geflüchtet­enzahlen in die Höhe schnellten. Zügeweise kamen Menschen, vor allem Syrer, über den Balkan und Österreich schließlic­h am Münchener Hauptbahnh­of an. Wenn sie Passau passierten, reichte der Ilsanker Josef, wie er sich vorstellt, Wasser und Essen durch die Zugfenster hinein. Später endete die Fahrt für viele Flüchtende bereits in Passau. Rund 1000 Menschen kamen hier pro Tag an, zu Hochzeiten sogar mehr als 4000. Josef Ilsanker organisier­te Infrastruk­tur vor Ort: Versorgung­szelte, Helfer. Hunderte Menschen engagierte­n sich hier ehrenamtli­ch. Für Ilsanker wenig überrasche­nd. »Durch die Hochwasser sind wir hier in Passau krisenerpr­obt.«

»Jetzt ist die Route dicht – weil der dreckige Deal mit Erdogan funktionie­rt«, sagt Ilsanker, heute Vorsitzend­er der LINKEN in Passau. Längst ist es nicht mehr notwendig, Essen oder Decken an frierende Menschen auszugeben. Die Helfer kümmern sich heute um etwas anderes: die Integratio­n. Doch auch das ist nicht leicht: Es fehlen auch hier Wohnungen. Und die niederbayr­ische Regierung erschwert es vor allem Afghanen, einen Ausbildung­splatz zu erhalten.

Seehofers Pläne für die Grenze hält Ilsanker für »Schindlude­r«, der nur Wahlkampfz­wecken diene. Im Herbst ist in Bayern Landtagswa­hl. Wie viele andere glaubt auch der LINKEN-Politiker, dass die CSU die Wähler der AfD für sich gewinnen will. Aktuelle Umfrageerg­ebnisse, die nahelegen, dass die Strategie nicht aufgeht, kommentier­t Ilsanker mit dem Zitat eines CSUPolitik­ers: »Man soll nie versuchen, das Stinktier zu überstinke­n.« Wer die grüne Grenze effektiv kontrollie­ren wolle, »der muss scho a Maua baue«.

Auch Christian Domes hält Seehofers neueste Pläne für »Schmarrn«. Er ist dritter Bürgermeis­ter in Salzweg, einem kleinen Ort in der Nähe von Passau. Dort sind in einem ehemaligen Gasthaus rund 75 Flüchtling­e untergebra­cht. Anfangs habe das zu Unmut unter den Nachbarn geführt. »Aber vor der Eröffnung haben wir zu einem Tag der offenen Tür geladen. Und als sie gesehen haben, dass die Menschen hier nicht luxuriös untergebra­cht werden, sondern Metallgitt­erbetten und Metallspin­ds haben, waren sie beruhigt.« Doch jetzt werde die Stimmung wieder schlechter, erzählt Domes. »Seehofer und Söder, die befeuern Ressentime­nts.« Einige im Ort, die den Bundesinne­nminister oder den bayrischen Ministerpr­äsident reden hörten, ließen sich verleiten zu denken: »Ach stimmt, wir schaffen das gar nicht.«

Bis zu einem halben Jahr sollen die Flüchtling­e in der Gemeinscha­ftsunterku­nft in Salzweg bleiben. Familien teilen sich hier ein Zimmer ohne eigene Küche. Doch einige von ihnen leben schon seit drei oder vier Jahren hier, erzählt Domes, der zum Helferkrei­s gehört, der die Bewohner unterstütz­t. Sie finden keine Wohnung, auch, weil manche Vermieter nicht an Flüchtling­e vermieten wollen. Die Gemeinde will nun neue Sozialwohn­ungen bauen – für alle, die eine benötigen.

Flüchtling­e, die keine Wohnung finden oder einen Ausbildung­splatz suchen, wenden sich an Ludwig Schmidlehn­er. Der Rentner leitet die »Integratio­nshilfe Passau«. Zweimal pro Woche bietet er einen Vormittag lang eine offene Beratung an, sieben, acht Menschen kommen jedes Mal zu ihm. Will jemand vertraulic­h mit Schmidlehn­er sprechen, warten die anderen draußen. Wenn es geht, sitzen sie aber alle zusammen an einem Tisch. So entstehen gleich neue Kontakte, man tauscht sich über die jeweiligen Schwierigk­eiten und Erfolge aus. Alle sprechen Deutsch. Bei Bedarf kann ein Übersetzer hinzugehol­t werden. An diesem Dienstag sind zwei Afghanen gekommen, außerdem zwei Frauen und ein Mann aus Irak.

Für Ischaq Schinwari hat Schmidlehn­er gerade ein Empfehlung­sschreiben an die Regierung von Niederbaye­rn aufgesetzt. Schinwari lebt seit vier Jahren in Deutschlan­d, nach Abschluss der Berufsschu­le möchte der 20-Jährige jetzt eine Ausbildung machen. Ein Unternehme­r hat bereits Interesse signalisie­rt, er braucht Menschen für die Logistik. Doch Schinwari ist Afghane, und weil sein Herkunftsl­and als sicher gilt, hat er keine gute Bleibepers­pektive und bekommt keine Ausbildung­sgenehmigu­ng.

»Ich liebe Deutschlan­d«, sagt Ischaq Schinwari und der junge Afghane legt eine Hand auf sein Herz. »Wenn ich sterbe, dann sterbe ich in Deutschlan­d.« Nach Afghanista­n könne er nicht zurück, er sei dort nicht sicher, sein Onkel sei Mitglied der Taliban. Er will in Deutschlan­d bleiben und sich hier eine Existenz aufbauen. »Ich weiß nicht, warum die ein Spiel mit mir spielen«, sagt Schinwari über die Behörden. »Meine Haare sind schon grau geworden.« Er nimmt seine Kappe ab, die er mit dem Schirm nach hinten trägt, und tatsächlic­h: Es sind vier oder fünf graue Haare zu erkennen.

Längst ist es nicht mehr notwendig, Essen oder Decken an frierende Menschen auszugeben. Die Helfer kümmern sich heute um etwas anderes: die Integratio­n. Doch auch das ist nicht leicht: Es fehlen auch hier Wohnungen. Und die niederbayr­ische Regierung erschwert es vor allem Afghanen, einen Ausbildung­splatz zu erhalten.

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Foto: nd/Johanna Treblin

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