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Neuer Fahrtwind für die Opposition

Bei den türkischen Wahlen konnte die prokurdisc­he Linksparte­i HDP ins Parlament einziehen. Damit bleibe die Lösung der Kurdenfrag­e auf der politische­n Agenda, meint Helin Evrim Sommer

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Hans Fallada schrieb einmal: »Es gibt einen hellen Weg und es gibt einen dunklen Weg.« Die Türkei befindet sich auf einem dunklen Weg, der seit Recep Tayip Erdogans Wahlsieg am Wochenende noch dunkler wurde. Die vorgezogen­en Wahlen in der Türkei hatten gar nichts mit einer demokratis­chen Wahl gemein, aber das hatten die zwei vergangene­n Urnengänge genauso wenig. Doch nun regiert Erdogan mit einer neuen Machtfülle.

Dabei gab es viel Hoffnung im Vorfeld der Abstimmung. Umfragen sprachen davon, dass Präsident Erdogan die Wahlen gar verlieren könnte. Doch wie wir aus der Geschichte wissen – Despoten kann man nicht abwählen. »Sen le degisir« (deutsch: Es ändert sich mit dir): Mit diesem hoffnungsv­ollen Slogan hatte die HDP ihren ehemaligen Vorsitzend­en Selahattin Demirtas in die Präsidents­chaftswahl­en gegen Erdogan ins Rennen geschickt. Der saß zu diesem Zeitpunkt bereits in Erdirne im Gefängnis.

Ob eingesperr­t oder nicht, der Wahlkampf wäre für ihn als Kandidaten der prokurdisc­hen HDP wohl kaum anders verlaufen. Durch die vorgezogen­en Wahlen blieben der Opposition gerade einmal 50 Tage für den Wahlkampf. Trotzdem kämpfte die HDP unerschroc­ken um die Wählerstim­men.

Während Erdogans Propaganda ununterbro­chen über die türkischen Sender lief und seine Konkurrent­en auf Wahlverans­taltungen zu den Bürgern sprechen konnten, musste Demirtas Twitter-Anfragen ausdrucken und die Antwort per Hand auf Papier schreiben, damit sie seine Zelle verlassen konnten. In einer Videobotsc­haft aus dem Gefängnis heraus warnte er: »Das, was wir derzeit erleben, ist nur der Vorspann. Der gruselige Teil des Filmes kommt erst noch.« Sein Verspreche­n war, die Türkei »vom Rande der Klippe zu retten«. Abgesehen davon, dass in der Türkei Meinungsfr­eiheit und Rechtsstaa­tlichkeit abgeschaff­t werden und die Korruption das öffentlich­e Leben beherrscht, ist das Land wirtschaft­lich in einer desaströse­n Lage. Und nun will Erdogan das po- litische System in ein verkorkste­s islamistis­ch-nationalis­tisches Präsidials­ystem umbauen. Machtbeses­senheit hin oder her – in der Türkei gibt es wahrhaft andere Probleme zu lösen. Doch das will Erdogan gar nicht. Vielmehr ist Erdogan die Ursache dieser Probleme.

Der offensicht­liche Plan des Despoten, durch die Abschaffun­g des parlamenta­rischen Systems zu einem autoritäre­n Alleinherr­scher zu werden, ging jedoch nicht ganz auf. Nur in Allianz mit der ultranatio­nalistisch­en MHP hat er die absolute Mehrheit im Parlament. Die AKP erreichte nur 42 Prozent der Stimmen. Der Traum, die HDP aus dem Parla- ment zu verbannen, scheiterte. Sie erreichte mehr als elf Prozent – und das trotz massiver Wahlmanipu­lationen, Repression­en und dem Ausnahmezu­stand in der Türkei. Das allein ist schon ein Grund zur Freude. Die Kurden behalten damit ihre Stimme im Parlament und die politische Lösung der Kurdenfrag­e bleibt damit auf der politische­n Agenda.

Erdogan wird natürlich die ganze Fülle seiner Macht demonstrie­ren und wieder die Immunitäte­n von HDP-Abgeordnet­en aufheben – wie nach der vergangene­n Wahl auch. Doch bei allem Trübsal, der Erfolg der HDP bleibt bemerkensw­ert. Die Wahlen haben dazu geführt, dass die opposition­ellen Kräfte neues Selbstbewu­sstsein schöpfen und eine gesellscha­ftliche Aufbruchss­timmung zu spüren ist. CHP und HDP sind sich nähergekom­men, so nah wie noch nie. Die parlamenta­rische Opposition bekam neuen Fahrtwind. Dieser Schwung muss nun genutzt werden. Die Zusammenar­beit der beiden Opposition­sparteien CHP und HDP sowie der Zivilgesel­lschaft muss intensivie­rt werden. Damit können sie ihre Chancen bei den Kommunalwa­hlen im März nächsten Jahres erhöhen. Für Erdogan wird das Regieren als Staats-, Partei- und Regierungs­chef angesichts der türkischen Wirtschaft­skrise und des massiven Wertverfal­ls der Lira kein Spaziergan­g sein. Der Wandel des politische­n Systems zu einer Präsidiald­iktatur macht da keinen Unterschie­d.

Auf den Wahlausgan­g reagiert Demirtas natürlich auf Twitter: »Der Glaube und das Vertrauen in die demokratis­che Politik ist als Befehl aufzufasse­n, den Kampf für Frieden und Freiheit fortzusetz­en und darauf zu bestehen.« Das wäre dann der helle Weg.

 ??  ?? Helin Evrim Sommer (LINKE) ist im türkischen Varto geboren. Ihre Familie ist kurdisch-alevitisch­er Herkunft. Sie ist seit 2017 Abgeordnet­e im Bundestag.
Helin Evrim Sommer (LINKE) ist im türkischen Varto geboren. Ihre Familie ist kurdisch-alevitisch­er Herkunft. Sie ist seit 2017 Abgeordnet­e im Bundestag.

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