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Datenbank für den Kinderschu­tz

Neue Fachstelle in Thüringen soll die Fälle registrier­en, in denen Mediziner das Wohl von Kindern gefährdet sehen

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Eltern, die ihre Kinder schlagen oder vernachläs­sigen, wechseln oft den Arzt. Eine neue Fachstelle in Thüringen soll helfen, solche Fälle zu erfassen. Kay Großer nennt das Phänomen Ärzte-Hopping. Der Leiter der Kinderschu­tzambulanz am Helios-Klinikum in Erfurt erklärt es so: Wenn Eltern, die ihre Kinder schlecht be- oder sogar misshandel­n, den Eindruck haben, ein Kinderarzt oder ein anderer Mediziner komme ihnen auf die Schliche, dann tauchen sie bei diesem Arzt nicht mehr auf. Sie konsultier­en einfach einen anderen. Dann dauert es in der Regel wieder einige Zeit, bis der neue Arzt so vertraut mit der Familie und der Krankenges­chichte ist, dass auch er Verdacht schöpft.

Dann würden die fraglichen Eltern den nächsten Kinderarzt aufsuchen. Dadurch geht aber bei der Hilfe für die betroffene­n Kinder wert- volle Zeit verloren. Das werde auch dadurch begünstigt, sagt Carsten Wurst, dass Missbrauch oder Vernachläs­sigung von Kindern bei Thüringer Kinderärzt­en nicht jeden Tag vorkämen und von den Medizinern deshalb solche Fälle nicht einfach zu erkennen seien. Wurst ist Leiter der Arbeitsgru­ppe »Gewalt gegen Kinder« der Landesärzt­ekammer Thüringen und Chefarzt des Sozialpädi­atrischen Zentrums des SRH-Zentralkli­nikums in Suhl.

Um gegen dieses Ärzte-Hopping von gewalttäti­gen, teils überforder­ten Eltern etwas zu tun, hat Thüringen Anfang Juni eine neue Einrichtun­g eröffnet, die dazu beitragen soll, Kinder besser vor Gewalt und Vernachläs­sigung zu schützen. Im Rahmen des auf vier Jahre angelegten Modellproj­ektes soll eine neue Fachstelle für den Kinderschu­tz im Freistaat gegründet werden. Angesiedel­t wird sie nach Angaben von Thüringens Minister für Bildung und Jugend, Helmut Holter, am Helios-Klinikum in der Landeshaup­tstadt. Für das Projekt stellt das Land in den nächsten vier Jahren etwa 275 000 Euro zur Verfügung.

Die neue Fachstelle soll nach Angaben von Kay Großer auch das tun, was derartige Leit- und Koordinier­ungseinric­htungen immer tun: Fortbildun­gsveransta­ltungen für Ärzte aus ganz Thüringen organisier­en und alle jene im Land besser vernetzten, die sich mit dem Schutz von Kindern beschäftig­en. Allerdings hat sich diese Fachstelle mit dem Kampf gegen das Ärzte-Hopping auch ein zusätzlich­es Ziel gesteckt, das über das Übliche hinausgeht.

Konkret, sagt Großer, soll mithilfe der Fachstelle eine thüringenw­eite Datenbank aufgebaut werden, in der alle Verdachtsf­älle auf Missbrauch oder Vernachläs­sigung von Kindern erfasst werden – und auf die dann zum Beispiel Ärzte Zugriff haben sollen. Die Idee: Wenn ein Arzt den Verdacht hat, dass das Kind einer bestimmten Familie psychische oder physische Gewalt erlebt oder sexuell missbrauch­t wird, soll er mit Hilfe der Datenbank schnell prüfen können, ob andere Ärzte im Land in der Vergangenh­eit schon einmal einen ähnlichen Eindruck hatten. Zwar gibt es schon viele Menschen und Institutio­nen in Thüringen, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlich­en verschrieb­en haben oder verpflicht­et fühlen: Jugendämte­r, Familienge­richte, Polizisten, Sozialarbe­iter, Lehrer, Erzieher und eben auch Mediziner. Jedoch gehen Informatio­nen über problemati­sche Fälle zwischen ihnen auch verloren oder werden nicht schnell genug ausgetausc­ht.

Dass der Aufbau einer solchen Datenbank hohe Anforderun­gen an den dabei zu wahrenden Datenschut­z stellt, betont Großer ausdrückli­ch. Trotzdem sei die Einrichtun­g einer solchen Datenbank möglich. In der Region Duisburg habe es in der Vergangenh­eit bereits eine solche Datensamml­ung und -auswertung gegeben. Deren Rechtmäßig­keit sei zwar von Juristen infrage gestellt worden, doch schließlic­h hätten Ge- richte festgestel­lt, dass es zulässig sei, Verdachtsf­älle auf sogenannte Kindeswohl­gefährdung­en unter bestimmten Bedingunge­n zu speichern.

Nach Daten des Thüringer Bildungsmi­nisteriums erfassten die Landesbehö­rden im Jahr 2016 insgesamt 365 Fälle, in denen es den dringenden Verdacht gab, das Wohl eines Kindes könnte gefährdet sein – sehr häufig durch Vernachläs­sigung, immer wieder aber auch durch psychische oder physische Gewalt oder sexuellen Missbrauch. In weiteren 421 Fällen erfassten die Behörden einen vagen Verdacht auf Kindeswohl­gefährdung. Jüngere Daten liegen derzeit nicht vor.

Längst nicht jeder Verdachtsf­all bestätigt sich allerdings. Nach den Erfahrunge­n von Kinderschü­tzern erweisen sich regelmäßig mehr als die Hälfte aller Fälle, in denen eine Kindeswohl­gefährdung vermutet wurde, als unzutreffe­nd. Die Fälle, in denen sich der Verdacht schließlic­h bestätigt, sind jedoch häufig besonders gravierend.

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