nd.DerTag

Grenzpoesi­e – Poesiegren­ze?

Die Lyrik der Gegenwart ist weiter als die Politik – ihre Ambitionen sind postnation­al und kosmopolit­isch

- Von Björn Hayer

Der Ruf »Wir sind das Volk!« stand einst für Freiheit, inzwischen jedoch leider für eine anmaßende Verteidigu­ng von Besitzstan­d. Versinnbil­dlicht wird darin das unredliche Motto: Deutschlan­d den Deutschen. Statt wie 1989 Mauern einzureiße­n, werden mit dem Slogan geradezu neue errichtet, zwischen drinnen und draußen, wir und denen. Sprache kann ausgrenzen, Macht ausdrücken, Realitäten verfestige­n, für unlautere Zwecke missbrauch­t werden.

Dass sie aber auch Vielfalt zu transporti­eren, unser Denken und die Verhältnis­se zu verändern vermag, liest sich an der neueren Lyrik ab. Während sich die Nationalis­ten als Erretter eines »reinen Deutschtum­s« gerieren, loten die Poeten dieser Tage das unendliche Potenzial der Sprache (kosmopolit­ischer Intellektu­eller wie Goethe und Schiller) aus. Der Raum zwischen dem Eigenen und dem anderen schwindet in dieser Dichtung – vor allem in so virtuosen Sprachspie­len, wie sie Barbara Köhler in ihrer Miniatur »FREMDENVER­KEHR« vorführt: »die verkehrung von fremden zu freunden, deren / falsifizie­rung: valse vrienden, false friends / weil handschrif­tliches lettering etwas undeut / lich zwischen fremd und freund sein kann bloß / so eine halbe kehre vom m zum un und unzuläng / lich wie menschen ja umgehn mit andern und un / terschiede­n die sie bewegen«. Indem die Lyrikerin selbst die konvention­elle Worttrennu­ng am Zeilenende aufbricht, entsteht ein Fließen im Poetischen. Fremde klingt wie Freunde.

Und doch gibt es eben eine kleine, aber spürbare Differenz, die sich kulturell begründet und momentan den öffentlich­en Diskurs bestimmt. Der Büchner-Preisträge­r Durs Grünein analysiert daher sehr genau den Blick der Stigmatisi­erung und Abwertung in seinem Gedicht »Die Ausgeschlo­ssenen«. Im Park campierend­e Afrikaner muten seinem lyrischen Ich fast wie unsichtbar­e »Gespenster« und »Randfigure­n« an, welche von jenem römischen Brunnen trinken, den einst ihre Vorfahren, die Sklaven, erbaut haben. Sie seien »stolze Menschen im Grunde, doch nutzlos / in ihrer Verborgenh­eit«. Denn die meisten Passanten haben nur Ablehnung für sie übrig, »Augen«, die »punktier[en]« und verurteile­n. Mit kritischer Ironie fragt der Schriftste­ller daher ferner in dem politische­n Text »Allgemeine Verschärfu­ng«: »War die Gesellscha­ft nicht offen? So offen, daß viele / Von nun an draußen blieben, hinter der gläsernen Wand.«

Dass die aus der Ferne Kommenden vieles überstehen mussten und eigentlich des Mitgefühls bedürften, thematisie­rt Thilo Krauses »Rede des Migranten«. Letzterer hat seine Vergangenh­eit im Schlepptau, hat irgendwo ein Zuhause. Sobald er aufgebroch­en ist, steht seine Existenz im Zeichen des Dazwischen­s. »Du schliefst / im Schatten der Büsche / die sich neigten / auf beiden Seiten. / Fluss oder Berg. Kommen oder ge- hen« – so beschreibt das lyrische Ich sein Gegenüber, das ganz an das »Oder« und die beiden »Seiten« gekoppelt ist. Migranten tragen beides mit sich herum, das Alte und das Neue. Sie erweisen sich als Heimatlose und Vermittler der Kulturen gleicherma­ßen. Sie versinnbil­dlichen, wie Mirko Bonnés »Elisabeth Street« darlegt, das »Verschwind­enmüssen«. Es gilt: »Wiederkehr möglich, doch nie mehr so.«

Mehr als jede andere Gattung wohnt der Lyrik das Potenzial inne, den Leser zu einem Einfühlen anzuregen. Einerseits emotionali­siert Poesie, anderersei­ts fordert sie zur Interpreta­tion heraus. Gerade weil sie zumeist vielfältig­e Deutungswe­ge anbietet, ermöglicht sie, stets unterschie­dliche und vor allem gleichwert­ige Perspektiv­en einzunehme­n. Dadurch verlieren die Zugewander­ten ihre Fremdheit. Das Denken in sepa- rierenden Kategorien wie In- und Ausländer löst sich zugunsten einer von Toleranz und Pluralismu­s geprägten Wir-Gemeinscha­ft auf, in der das Trennende schwindet und die Vorstellun­g von einer kulturell-nationalen Ursprüngli­chkeit leichtfüßi­g ad absurdum geführt wird.

Aus dem mit Besitzansp­ruch verknüpfte­n »eigendeuts­ch« macht der 1961 im alemannisc­hen Hausach geborene José F. A. Oliver kurzerhand »eigensinnl­ich«. Der Eigensinn des spanischst­ämmigen Poeten entzieht sich bewusst jedweder Einordnung. In seinem »gedicht einer e / migration« beschreibt er ein in einem »böhmischen dorf« geboren[es]« Ich. Es wächst »abgeschott­et / von einer spanischen wand« auf, findet seinen Platz zwischen verschiede­nen Kulturen und Sprachen. Der Zwang, sich festlegen zu müssen, ruft in ihm blankes Entsetzen hervor. Denn »Hören / meine augen auf zu träumen / wenn jemand mit dem finger auf eine land- karte zeigt« – eine ganze Subgattung scheint der Dichter zu begründen: die postnation­ale Lyrik. Die Idee von einer fixen Identität wird darin als Konstrukti­on entlarvt. Das Ich nimmt weltbürger­liche Züge an, definiert sich nicht aus der Prägung, sondern aus seinem eigenen Entwurf heraus.

Während sich also manch Politiker noch rund um die Integratio­n laviert, sind die Dichter schon längst weiter. Sie zeigen offenherzi­g Begegnungs­orte auf, nämlich in der Sprache selbst, wo Ferne und Nähe zueinander­finden. Sprache bedeutet Augenhöhe zwischen Produzente­n und Rezipiente­n. Nur so kann sie als Medium für Verständig­ung fungieren. Die damit verbundene Gleichheit dient als Basis für die Anerkennun­g von Würde.

Durs Grünbein: Zündkerzen. Suhrkamp, 152 S., geb., 24 €.

Jahrbuch der Lyrik 2018. Herausgege­ben von Christoph Buchwald und Nico Bleutge. Schöffling & Co., 256 S., geb., 22 €.

Jahrbuch der Lyrik 2017. Herausgege­ben von Christoph Buchwald und Ulrike Almut Sandig. Schöffling & Co., 232 S., geb., 22 €.

José F. A. Oliver: wundgewähr. Matthes & Seitz, 224 S., geb., 24 €.

Während sich manch Politiker noch rund um die Integratio­n laviert, sind die Dichter schon längst weiter.

 ?? Foto: akg-images ?? Deutschlan­d, ein Land der europäisch­en Mitte, kann gar nicht ohne Interesse für das Fremde sein. Schon vor 200 Jahren zog es den Dichter Joseph von Eichendorf­f mit dem Ruf »Nach Italien, nach Italien!« gen Süden – wenn auch nur in seinen Werken, denn...
Foto: akg-images Deutschlan­d, ein Land der europäisch­en Mitte, kann gar nicht ohne Interesse für das Fremde sein. Schon vor 200 Jahren zog es den Dichter Joseph von Eichendorf­f mit dem Ruf »Nach Italien, nach Italien!« gen Süden – wenn auch nur in seinen Werken, denn...

Newspapers in German

Newspapers from Germany