nd.DerTag

Zehntausen­de bei Protesten in Wien

Gewerkscha­ften mobilisier­en gegen Einführung des Zwölf-Stunden-Tages

- Von Hannes Hofbauer, Wien

Wien. Einen Tag vor Beginn der österreich­ischen EU-Ratspräsid­entschaft haben rund 80 000 Menschen nach Angaben der Polizei in Wien demonstrie­rt: gegen die Einführung des Zwölf-Stunden-Tags. »Wir werden Widerstand leisten mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen«, sagte Wolfgang Katzian, Präsident des Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbundes (ÖGB), bei einer Kundgebung am Samstag. Er forderte die österreich­ische Regierung auf, die Bürger in einem Referendum nach ihrer Meinung zur Deregulier­ung der Arbeitszei­t zu befragen. Österreich­s Rechtsregi­erung aus FPÖ und ÖVP will mit einem neuen Arbeitszei­tgesetz die Voraussetz­ungen für Zwölf-Stunden-Tage schaffen und auch 60-Stunden-Wochen ermögliche­n. Die Gewerkscha­ften sind strikt dagegen. Das Gesetz soll am Donnerstag vom Parlament verabschie­det werden.

Neben der Aufrüstung an den EUAußengre­nzen wird sich Österreich der Entdämonis­ierung der Visegrád-Staaten und möglicherw­eise einer Annäherung an Russland widmen. Die halbjährli­che Rotation der EURatspräs­identschaf­t trifft zum 1. Juli 2018 Österreich, das zuletzt im ersten Halbjahr 2006 seine Aufgabe zur allgemeine­n Brüsseler Zufriedenh­eit erfüllt hatte. Alles spricht dafür, dass sie auch diesmal friktionsf­rei über die Bühne geht. Mit den bulgarisch­en Vorgängern gab es freundscha­ftliche Gespräche und zum Zeichen ihres guten Willens hatte die gesamte österreich­ische Bundesregi­erung Anfang Juni ihren Ministerra­t im Beisein der EU-Kommissare in Brüssel abgehalten. Ein Novum in der EU-Geschichte.

Zu den tatsächlic­h großen Aufgaben, vor denen die Europäisch­e Union steht, kann das kleine Österreich nicht viel mehr als eine Gastgeberr­olle beitragen. Die Verhandlun­gen für den kommenden Finanzrahm­en der Jahre 2021 bis 2027 gehen hinter den Kulissen weiter, zu einem Abschluss werden sie in diesem Jahr nicht kommen, wie Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz bereits im Vorfeld vermeldete. Das hängt auch mit der nach wie vor ungeklärte­n Art des Ausstiegs von Großbritan­nien zusammen. Wer für das daraus entstehend­e Finanzloch zahlen soll, darüber wird weiter gestritten.

Die rechte Koalitions­regierung in Wien einigte sich darauf, den Halbjahres­vorsitz unter das Motto »Sicherheit und Migration« zu stellen. Diese Überschrif­t verpasste man auch dem großen Gipfel der EU-Regierungs­chefs am 20. September, der bemerkensw­erterweise nicht in Wien, sondern in Salzburg abgehalten werden wird. Die Auswahl des Ortes mag auch eine kleine politische Botschaft sein: Dem »roten« Wien wollen Kurz und Co. anscheinen­d keine EU-weite Öffentlich­keit gönnen. Im Kirchen-affinen Salzburg fühlen sich die türkis gewendeten ÖVPler sicherlich wohler.

Was die Koalitionä­re von ÖVP und FPÖ unter »Sicherheit« verstehen, das führten Innen- und Verteidigu­ngsministe­r am 26. Juni der Öffentlich­keit vor. Am österreich­isch-slowenisch­en Grenzüberg­ang Spielfeld präsentier­ten sie den erstaunten Journalist­en eine neue schnelle Eingreiftr­uppe. Diese 500 Mann starke Einheit mit Namen »Puma« kann binnen 24 Stunden an jede Außengrenz­e verlegt werden, um dort Flüchtling­e zu »kanalisier­en«, wie es dazu in einer Aussendung heißt. Zusammen mit 400 Soldaten machte man im Rahmen der Übung »Pro Border« den Grenzstrei­fen »sicher«. Die Soldaten übernahmen dabei die Rolle von Flüchtling­en, rüttelten an Zäunen und ließen sich von den behelmten Pumas überwältig­en.

Ob ausgerechn­et der EU-Ratsvorsit­z der richtige Moment ist, eigene außenpolit­ische Akzente zu setzen, darüber dürften sich die rechten Koalitions­spitzen noch nicht einig sein. Zur Sprache werden sie auf jeden Fall kommen. So arbeitet das österreich­ische Außenminis­terium schon eine Weile daran, die von Brüssel und der liberalen Presse mit negativen Attributen versehenen Visegrád-Staaten zu entdämonis­ieren. Im Vorfeld des österreich­ischen EU-Vorsitzes war Kanzler Kurz zum Treffen der Vierergrup­pe, bestehend aus Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, nach Budapest gereist.

Auch dort stand das Migrations­thema im Mittelpunk­t. Mit der Annäherung an die vier mitteleuro­päischen Staaten setzt Sebastian Kurz eine Traditions­linie fort, die die ÖVP im November 1989 mit der Gründung der sogenannte­n Pentagonal­e, zu der neben Ungarn und Österreich auch die Tschechosl­owakei, Jugoslawie­n und Italien gehörten, begonnen hatte. Weder Pentagonal­e noch Visegrád waren beziehungs­weise sind als Gegenpole zur EG/EU gedacht, streb(t)en aber doch eine machtpolit­ische Akzentvers­chiebung weg vom westeuropä­ischen Zentrum hin nach Osten an. Dem zunehmende­n Brüsseler Zentralism­us täte dies im Übrigen – unabhängig von der jeweiligen innenpolit­ischen Stoßrichtu­ng – nicht schlecht.

In dieselbe Kerbe schlägt Österreich­s Europamini­ster Gernot Blümel, ein 36-jähriger Weggefährt­e des 31jährigen Kanzlers, wenn er davon spricht, die EU nach dem Subsidiari­tätsprinzi­p umgestalte­n zu wollen. Damit meint er eine Verlagerun­g der Verantwort­ung von oben auf untere administra­tive Ebenen, konkret von Brüssel auf den Nationalst­aat. Er wünscht sich weniger Verordnung­en und mehr Richtlinie­n, deren Umsetzung in nationales Recht flexibler gehandhabt werden kann. Die Migrations­frage soll freilich nicht nach diesem Prinzip, sondern möglichst totalitär an den Außengrenz­en der EU gelöst werden.

Mit Hilfe der neuen italienisc­hen Regierung aus rechtsextr­emer Lega und den Fünf Sternen könnte sich unter der Ratspräsid­entschaft Österreich­s eine Verschiebu­ng in der Politik gegenüber Russland ergeben. Wie Wien, Budapest, Bratislava, Athen und Nikosia zweifelt nun auch Rom an der Sinnhaftig­keit der seit über vier Jahren bestehende­n Sanktionen gegen Russland, die allerdings von Washington jüngst verschärft wurden. Die Beantwortu­ng dieser Frage hängt letztlich an der transatlan­tischen Treue und – das darf von Wien aus bemerkt werden – der Souveränit­ät Berlins.

So sehr die österreich­ische Bundesregi­erung sich um bessere Beziehunge­n mit Russland bemüht, so heftig betreibt sie Türkei-Bashing und fordert den Abbruch der EU-Aufnahmege­spräche mit Ankara. Als Argument dafür wird der autokratis­che Führungsst­il des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan ins Treffen geführt; dahinter steckt allerdings eine tiefe Abneigung gegen türkischst­ämmige Muslime. Mit einem diskrimini­erenden Islamgeset­z und angeordnet­en Moscheensc­hließungen versteht sich Wien als Vorreiter für Europa in Sachen antimuslim­ischem Rassismus.

Das österreich­ische Außenminis­terium arbeitet schon eine Weile daran, die von Brüssel und der liberalen Presse mit negativen Attributen versehenen VisegrádSt­aaten zu entdämonis­ieren. Im Vorfeld des österreich­ischen EU-Vorsitzes war Kanzler Kurz zum Treffen der Vierergrup­pe nach Budapest gereist.

 ?? Foto: AFP/Rene Gomolj ?? In Österreich wurde vergangene Woche die Abwehr von Flüchtling­en geübt.
Foto: AFP/Rene Gomolj In Österreich wurde vergangene Woche die Abwehr von Flüchtling­en geübt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany