nd.DerTag

Bis heute eine blutende Wunde

Vor 25 Jahren wurden in der türkischen Stadt Sivas 37 Aleviten umgebracht. Eine Aufarbeitu­ng des Pogroms fand bislang nicht statt

- Von Hülya Gürler

Am 2. Juli 1993 griff ein religiöser Mob im anatolisch­en Sivas ein alevitisch­es Kulturfest­ival an. Es gab zahlreiche Tote. Auch in Deutschlan­d wird an das Pogrom erinnert. Nach und nach erheben sich rund 400 Gäste des Cemevi, des alevitisch­en Gebetshaus­es in Berlin, von ihren Stühlen, langsam, bedächtig und sichtlich gerührt – die rot beleuchtet­e Bühne gibt dem Sprechthea­terstück die angemessen­e Dramatik. Die rechte Hand an der linken Brust, ste- hen sie am Freitag Abend beim Schlussakt des Stücks, das ein tragisches Ereignis von vor 25 Jahren nachspielt, einige Minuten so da, bis die Instrument­almusik verstummt und die Darsteller aufhören zu singen. Das Alevitentu­m ist eine liberal-muslimisch­e Glaubensri­chtung – und die zweitgrößt­e Religionsg­emeinschaf­t in der Türkei. Das Ereignis, an das die Gäste des Cemevi erinnern, ist das Massaker in der mittelanat­olischen Stadt Sivas vom 2. Juli 1993. Für die Aleviten ist es bis heute eine blutende Wunde, weshalb sie jedes Jahr Anfang Juli die Er- innerung daran wachhalten – in Berlin seit 25 Jahren mit Demonstrat­ionen, an denen bis zu 5000 Menschen teilnehmen.

Bis zum frühen Nachmittag kamen hier am Sonntag nach Angaben der Veranstalt­er vom Cemevi rund 3000 Menschen zusammen. Auch in anderen Bundesländ­ern fanden am Sonntag Gedenkvera­nstaltunge­n alevitisch­er Vereine statt, wie in Köln vor dem Hauptbahnh­of. »Eine wirkliche Aufarbeitu­ng gab es bisher nicht. Die Täter laufen teilweise frei herum, einige haben in Deutschlan­d Asyl bekommen, andere sind in der Türkei als Bürgermeis­ter und Minister aktiv«, sagt der stellvertr­etende Vorsitzend­e der Alevitisch­en Gemeinde Deutschlan­d, Aslan Demir.

37 Menschen kamen vor 25 Jahren ums Leben, darunter zwei der Protestier­enden, als ein aufgebrach­ter fanatisch-religiöser Mob von mehreren Tausend Personen nach dem Freitagsge­bet vor dem Madimak-Hotel in Sivas Slogans wie »Nieder mit dem Laizismus« rief, Steine warf und zusah, wie das Hotel brannte. Dort hielten sich zumeist alevitisch­e und auch andere Intellektu­elle, Dichter und Musiker auf.

An jenem Tag im Juli fand wie Jahre zuvor ein Kulturfest­ival zu Ehren des alevitisch­en Dichters Pir Sultan Abdal statt, unter den Teilnehmen­den befand sich der Schriftste­ller Aziz Nesin. Der bekennende Atheist war bei den Fanatikern verhasst, weil er Auszüge seiner türkischen Übersetzun­g der »Satanische­n Verse« von Salman Rushdie in einer Zeitung herausgab. Das Buch empfinden religiöse Fanatiker als ketzerisch. Eine lokale Zeitung machte zuvor Stimmung gegen Nesin, der das Pogrom knapp überlebte. Polizei, Feuerwehr und Militär griffen viel zu spät ein, obwohl sie schon vorher alarmiert waren.

Mehrere Täter wurden verurteilt, andere sind wegen Verjährung davongekom­men. »Damals hat ein Verbrechen an der Menschlich­keit stattgefun­den und einer oder zwei der Täter betreiben in Berlin unbehellig­t ein Geschäft. Es tut weh, dass wir diesel- Alevitisch­e Gemeinde Deutschlan­d

be Luft einatmen«, sagt Yemliha Koc vom Alevitisch­en Kulturzent­rum in Berlin nach der Theatervor­stellung. Das Pogrom reiht sich ein in eine Folge mit anderen gegen Aleviten in der Türkei, zum Beispiel 1978 in Maras mit mehr als hundert Toten. Sivas gilt als Wendepunkt für Aleviten hin zu mehr Sichtbarke­it und politische­r Mobilisier­ung.

Die Verfolgung und Diskrimini­erung der Aleviten bricht bis heute nicht ab. Vergangene­n März erst verhaftete die Polizei in der ostanatoli­schen Stadt Erzincan mehrere Mitglieder eines alevitisch­en Kulturzent­rums. Doch so weit weg muss man gar nicht schauen. »Auch in deutschen Städten kam es zu Provokatio­nen und Bedrohunge­n vor Cemhäusern, zum Beispiel in Remscheidt und Marl«, meldet die Alevitisch­e Gemeinde Deutschlan­d auf ihrer Webseite. Die Vorfälle sollen sich unmittelba­r nach der Verkündung der Wahlergebn­isse in der Türkei vor einer Woche ereignet haben. Anhänger der Regierungs­partei AKP sollen Andersdenk­ende bedroht haben.

»Dass die AKP aus den Wahlen gestärkt hervorgega­ngen ist, verheißt aus Sicht der Aleviten nichts Gutes«, sagt Aslan Demir. Im Wahlkampf versprach Recep Tayyip Erdogan alevitisch­en Gebetshäus­ern eine juristisch­e Anerkennun­g, was der Anerkennun­g des Alevitentu­ms als eigenständ­ige Religionsg­emeinschaf­t gleichkäme. Demir ist skeptisch: »Mit der AKP-Regierung wird es eine Anerkennun­g nicht geben.« Die messe mit zweierlei Maß, wenn sie in Deutschlan­d des Brandansch­lags in Solingen aus demselben Jahr wie das Sivas-Massaker gedenke und letzteres im eigenen Land ignoriere, meint Demir.

Die Aleviten verlangen nicht mehr als das Selbstvers­tändlichst­e vom türkischen Staat: Die Leiden der Opfer müssen anerkannt, das Madimak-Hotel in eine nationale Gedenkstät­te umgewandel­t und die Täter konsequent verfolgt und verurteilt werden, fordert beispielsw­eise die Alevitisch­e Gemeinde Deutschlan­d.

»Auch in deutschen Städten kam es zu Provokatio­nen und Bedrohunge­n vor Cemhäusern.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany