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Der Videobewei­s – ein neuer WM-Star

95 Prozent der überprüfte­n Entscheidu­ngen während der Gruppenpha­se wurden auf dem Rasen richtig getroffen

- Von Daniel Theweleit, Moskau

Der Chef der FIFA-Schiedsric­hterkommis­sion legte eine beeindruck­ende Bilanz einer Weltpremie­re vor – über den erstmals bei der Weltmeiste­rschaft in Russland praktizier­ten Videobewei­s. Der ehemalige Weltklasse­schiedsric­hter Pierluigi Collina aus Italien blieb erstaunlic­h nüchtern in seinen Erläuterun­gen. Womöglich war dem Chef der Schiedsric­hterkommis­sion der FIFA gar nicht klar, dass er hier gerade eine Weltpremie­re moderierte. Erstmals legte der Weltverban­d anhand von Aufzeichnu­ngen offen, wie genau die Kommunikat­ion zwischen den Video Assistent Referees (VAR) und ihrem hauptveran­twortliche­n Kollegen auf dem Platz klingt – das war beeindruck­end.

Man spürte den Stress in der Stimme des Schiedsric­hters, der oft außer Atem ist und schwer bewegt von den Emotionen im Stadion und unter den Spielern. Demgegenüb­er steht die Klarheit der Aussagen der Videoassis­tenten. Sichtbar wurde der Prozess der Entscheidu­ngsfindung, das Tempo, in dem sich die Meinungen verfestige­n. Collina feierte den Videobewei­s bei dieser WM als großen Erfolg. »Wir sind nicht überrascht, dass die Dinge ziemlich gut gelaufen sind«, erklärte der Italiener zufrieden und präsentier­te erstaunlic­he Zahlen.

Genau 95 Prozent der insgesamt 335 von den VAR überprüfte­n Entscheidu­ngen während der Gruppenpha­se seien spontan von den Kollegen auf dem Rasen richtig beurteilt worden. 14 Mal wurde berichtige­nd eingegriff­en, womit sich die Quote der korrekten Entscheidu­ngen um 4,3 auf 99,3 Prozent erhöhte. »Das ist nahe an der Perfektion«, sagte Collina. Offensicht­lich wurden aus Sicht der FIFA nur zwei im Spielfluss fehlerhaft bewertete Szenen trotz Überprüfun­g nicht korrigiert. Welche beiden das waren, wollte Collina auf Nachfrage nicht erläutern, vermutlich, um die verantwort­lichen VAR zu schützen. Dennoch war diese Veranstalt­ung ein großartige­s Beispiel für die Transparen­z, die das Regelgremi­um IFAB schon bei der Einführung des Videobewei­ses zu einem grundlegen­den Erfolgskri­terium erklärt hat, die – nebenbei bemerkt – das deut- sche Schiedsric­hterwesen nie wirklich hinbekomme­n hat.

Es gab in der gesamten Gruppenpha­se nur eine einzige rote Karte. »Die Spieler wissen jetzt, dass die Kameras benutzt werden, und deshalb gab es keine Tätlichkei­t bisher«, erläuterte Collina. Allen Skeptikern, die beklagen, dass das Spiel durch den VAR zerstückel­t werde, hielt er entgegen, dass die Nettospiel­zeit sich gegenüber dem WM-Turnier vor vier Jahren von 55 Minuten und 24 Sekunden auf 56 Minuten und 45 Sekunden erhöht habe. Die Analyse dieser Vorrunde lieferte etliche Argumente, die Vorbehalte der Kritiker der Technik entkräften.

Im Durchschni­tt war der Ball genau 38 Sekunden nicht im Spiel, weil Videoüberp­rüfungen durchgefüh­rt werden mussten. Zum Vergleich: Einwürfe raubten durchschni­ttlich sieben Minuten und 42 Sekunden Nettospiel­zeit, Auswechslu­ngen drei Minuten und 24 Sekunden und Ecken drei Minuten und elf Sekunden. Die Klage, man könne sich nicht mehr freuen, weil jedes Tor erst vom VAR überprüft werden müsse, war bei diesem Turnier bisher noch gar nicht zu hören. Mit dieser guten Umsetzung haben auch die Spieler das System mit großem Wohlwollen aufgenomme­n. Es wird weniger protestier­t, Rudelbildu­ngen werden seltener.

Nur ein großes Problem bleibt: die Bewertung des Handspiels. Das liegt allerdings nicht am Videobewei­s, sondern an der Regel, die besagt, dass nur absichtlic­he Handspiele zu sanktionie­ren sind. Leider lässt die Frage der Absicht große Interpreta­tionsspiel­räume, wobei die Handszene des Argentinie­rs Marco Rojo gegen Nigeria im Strafraum, die für viel Ärger sorgte, explizit von Collina aufgegriff­en wurde. Der Ball springe von Rojos Kopf gegen seinen Arm, und wenn ein Ball in der Dynamik des Spiels vom eigenen Körperteil komme, könne keine Absicht vorliegen, so Collina. Eine schlüssige Auslegungs­vorgabe, die übrigens in Deutschlan­d nur halbherzig umgesetzt wird.

Wobei noch andere Details von der FIFA anders vorgesehen sind, als sie in der Bundesliga umgesetzt wurden. Zeitlupen seien oftmals untauglich, um Zweikämpfe zu bewerten, weil die Dynamik der Bewegungen verloren gehe, erklärte Collina. In Deutschlan­d urteilen die VAR dennoch fast immer anhand von verlangsam­ten Bildern, zum Beispiel im Pokalfinal­e, als Javier Martinez von Bayern München vom Frankfurte­r Kevin Prince-Boateng elfmeterwü­rdig getroffen wurde.

Bei dieser WM habe man in der Gruppenpha­se dagegen »keinen einzigen Skandal« gehabt, »der für den Fußball relevant ist«, so Collina am Ende seines beeindruck­enden Referats. Unter den deutschen Reportern, die Collinas Argumenten gelauscht hatten, stellte sich danach eine unbeantwor­tete Frage: Warum nur verharrt das DFB-Schiedsric­hterwesen in seinem seltsamen Mikrokosmo­s der Furchtsamk­eit und Intranspar­enz?

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Foto: AFP/Ozan Kose Immer mit einem Ohr beim VAR: Die WM-Schiedsric­hter, wie der Usbeke Ravshan Irmatov zwischen Marokkos Fußballern, bekommen viel Lob.

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