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60 000 politische Gefangene in Ägypten

Nach dem Sturz von Mohammad Mursi vor fünf Jahren ist das Land unter Präsident al-Sisi unfreier als je zuvor

- Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv

Massenhinr­ichtungen mit 1000 Verurteilt­en auf einmal: In Ägypten herrscht eine Atmosphäre der Angst. Doch der Unmut über al-Sisi steigt, Regierungs­vertreter haben Angst, dass es ihnen wie Mursi ergeht. Schon in den frühen Morgenstun­den hatten Polizisten am Montag rund um den Tahrir-Platz im Zentrum von Kairo Stellung bezogen, in den Seitenstra­ßen zog Militär mit schwerem Gerät auf. »Unruhestif­ter«, »Terroriste­n« würden hart bestraft, hatte das Innenminis­terium schon am Wochenende bekannt gegeben.

Doch es ist ohnehin kaum noch jemand da, der in der Lage wäre, auf die Straße zu gehen. Vor fünf Jahren hatten genau hier, auf dem TahrirPlat­z, Zehntausen­de gegen die Regierung von Präsident Mohammad Mursi demonstrie­rt. Man wandte sich gegen den zunehmend autokratis­chen Regierungs­stil des ersten wirklich frei gewählten Präsidente­n in der Geschichte des Landes, gegen seine Versuche, Ägypten stärker nach dem Islam auszuricht­en, wie ihn sich die Muslimbrud­erschaft vorstellt, aus deren Umfeld er stammt. Am 3. Juli 2013 wurde er dann vom Militär zunächst zum Rücktritt gezwungen, dann inhaftiert. Adli Mansur, Präsident des Verfassung­sgerichts, wurde Übergangsp­räsident, bevor dann im März 2014 Generalsta­bschef Abdel Fattah al-Sisi, der bis dahin die Strippen im Hintergrun­d zog, die Präsidents­chaftswahl gewann.

Und sich dann daran machte, die Freiheit, die Demokratie einzuschrä­nken. Heute sitzen viele derjenigen, die vor fünf Jahren gegen Mursi demonstrie­rt hatten und die Hilfe des Militärs forderten, selbst im Gefängnis. Bis zu 60 000 politische Gefangene, schätzen Menschenre­chtsorgani­sationen, könnte es derzeit in Ägypten geben. Notorisch geworden sind Massenproz­esse, in denen bis zu 1000 Menschen gleichzeit­ig innerhalb von Minuten zum Tode verurteilt werden. Wie viele dieser Urteile tatsächlic­h vollstreck­t werden, ist ungewiss – Hinrichtun­gen werden nur sehr selten bekannt gegeben.

Es ist eine tiefsitzen­de Atmosphäre der Unfreiheit, die heute in Ägypten herrscht, kaum jemand sagt noch offen seine Meinung. Gleichzeit­ig steigt der Unmut über al-Sisi, der sich regelmäßig in Wahlen legitimier­en lässt. Doch die Wahlergebn­isse mögen zwar mit Werten weit über 90 Prozent gut ausschauen. Aber die Wahlbeteil­igung ist stets niedrig, liegt bei unter 50 Prozent. Denn auch wenn die Muslimbrud­erschaft schon vor Jahren zur terroristi­schen Vereinigun­g erklärt und die gesamte Führungsri­ege festgenomm­en wurde: Vor allem auf dem Land hat die Organisati­on nach wie vor viele Unterstüt- zer. Sie leistet karitative Arbeit, ihre politische­n und religiösen Ideologien sind populär.

Zudem bekommt al-Sisis Regierung die wirtschaft­liche Lage nicht in den Griff: Die Inflation ist hoch, die Preise steigen, die Löhne aber nicht. Stattdesse­n musste man, als Bedingung für Milliarden­kredite des Internatio­nalen Währungsfo­nds, Subvention­en für Strom, Benzin und Lebensmitt­el massiv zurückfahr­en. Nach einem Anschlag auf ein russisches Passagierf­lugzeug brachen zudem die Touristenz­ahlen ein.

Und so sprechen mittlerwei­le Regierungs­vertreter recht offen über die Sorge, dass es al-Sisi, und damit auch ihnen selbst, ähnlich gehen könnte wie den Vorgängern Mubarak und Mursi. Gleichzeit­ig erklärt man al-Sisi dann stets für alternativ­los: Er sei der Einzige, der Ägypten »vor dem Niedergang« schützen könne, so Innenminis­ter Mahmud Tawfik, der erst seit wenigen Tagen im Amt ist. Man müsse härter gegen jene vorgehen, die die öffentlich­e Sicherheit bedrohen: »Diese Jugendlich­en wollen Ägypten ins Chaos stürzen«, sagt Tawfik.

Dabei fordert er die Unterstütz­ung westlicher Regierunge­n ein, verweist darauf, dass »Ägypten nicht nur ir- gendein Land ist«: Die Sinai-Halbinsel grenzt an den Gazastreif­en und Israel, außerdem stellt der Suez-Kanal eine der wichtigste­n Schifffahr­tsrouten der Welt dar. Die Rechnung ist deshalb aus seiner Sicht einfach: Ein starkes Ägypten sei für Israel und die Welt lebenswich­tig.

Viele westliche Regierunge­n scheinen das ähnlich zu sehen: USPräsiden­t Donald Trump lobte al-Sisi, von europäisch­en Regierunge­n war bereits seit langem schon kaum ein kritisches Wort zu hören, und das, obwohl sich seit einigen Monaten auch Berichte über extreme Folter in Polizeista­tionen häufen.

 ?? Foto: AFP/Khaled Desouki ?? Ägyptens Wirtschaft kommt unter al-Sisi nicht in Fahrt, im Juni stiegen die Spritpreis­e um bis zu 50 Prozent.
Foto: AFP/Khaled Desouki Ägyptens Wirtschaft kommt unter al-Sisi nicht in Fahrt, im Juni stiegen die Spritpreis­e um bis zu 50 Prozent.

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