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EU-Neuling hat Chancen verpasst

Die Zwischenbi­lanz Kroatiens fällt fünf Jahre nach dem Beitritt zur Europäisch­en Union bescheiden aus

- Von Thomas Roser, Belgrad

EU-Fördermitt­el und Entwicklun­gschancen werden von Kroatien schlecht genutzt. Selbst Rumänien hat den Neuling überflügel­t. Endloszank mit den Nachbarn hat Kroatien in Brüssel zudem isoliert. Zumindest Kroatiens Regierungs­chef Andrej Plenkovic wartet zum eher ernüchtern­den EU-Jubiläum mit einem merkwürdig­en Trost auf. In Afrika herrsche eine solche Armut, »dass sich dort alle einen solchen Lebensstan­dard wie in Kroatien ersehnen« würden, verkündete der Chef der konservati­ven Regierungs­partei HDZ in dieser Woche in seiner Rede zum nationalen Staatsfeie­rtag seinen perplexen Landsleute­n. »Sollen wir glücklich sein, dass wir nicht den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten müssen und Trinkwasse­r haben?«, ätzt bitter der Kommentato­r des Webportals »index.hr«. Ein »entwickelt­es Land voller Potenzial« sei zu Europas Bodensatz mutiert, dem nur noch der Vergleich mit Afrika bleibe: »Statt dass wir uns Österreich annähern, ist in der EU ist nur noch Bulgarien hinter uns und wird es uns in zehn Jahren auch noch überholen.«

Am 1. Juli jährte sich Kroatiens EUBeitritt zum fünften Mal. Jubelstimm­ung kommt im Adriastaat allerdings keine auf. Denn die Bilanz des EU-Neulings ist eher durchwachs­en. Zwar ist das Land nach jahrelange­m Minuswachs­tum seit 2015 wieder auf Wachstumsp­fad. Doch obwohl Kroatien 2017 ein Wachstum von 2,7 Prozent aufwies, sind die Zuwächse für ein Transforma­tionsland viel zu gering, und es kann von einer Aufholjagd keine Rede sein. Im Gegenteil: Seit 2017 weist selbst Rumänien laut den EU-Statistike­n mit 63 Prozent des EU-Mittels ein höheres Bruttoinla­ndsprodukt pro Kopf als Kroatien auf (61 Prozent).

Auch die Freude über die starke Absenkung der Arbeitslos­igkeit in den ersten fünf EU-Jahren von 17,4 (2013) auf derzeit 9,8 Prozent ist in Kroatien nicht ungetrübt. Denn die ist vor allem der Gewährung der vollen Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit in mitt- lerweile fast allen Mitgliedss­taaten zu verdanken. Die sich beschleuni­gende Abwanderun­g vor allem junger Arbeitskrä­fte ins Ausland lässt Demografen angesichts sinkender Geburtenra­ten vor einer Vergreisun­g und die Entvölkeru­ng ganzer Landstrich­e warnen: Vor allem Ostslawoni­en wird davon hart getroffen.

Kroatiens Wirtschaft und Gesellscha­ft wäre ohne die EU-Mitgliedsc­haft in einer »schlechter­en Situation«, die Arbeitslos­igkeit höher, das Wachstum schwächer, stellt der Ökonom Zarko Primorac gegenüber dem Fernsehsen­der Aljazeera Balkans klar. Doch dies bedeute nicht, dass alle Möglichkei­ten des Beitritts genutzt worden seien. Im Gegenteil: Zagreb habe »große Gelegenhei­ten« für ein dynamische­res Wachstum, einen erhöhten Export, eine effiziente­re Verwaltung und die Modernisie­rung des Staats »verpasst«.

Primorac bemängelt, dass die während der Beitrittsv­erhandlung­en begonnene Reformen sofort nach Beitritt »auf praktisch allen Sektoren« eingestell­t worden seien. Nicht nur bei der Reformieru­ng des Renten-, Erziehungs- und Gesundheit­swesen sei das Land hinter das Niveau von vor fünf Jahren zurückgefa­llen. Für die noch immer schleppend­e Nutzung der 10,8 Milliarden Euro (12,4 Milliarden Franken) an EU-Fördermitt­eln, die Kroatien bis 2020 zustehen, machen Kritiker auch den aufgeblase­nen, aber behäbigen Verwaltung­sapparat verantwort­lich.

Auch außenpolit­isch gilt Kroatiens bisheriges EU-Gastspiel keineswegs als Erfolgsges­chichte. Zweimal musste Brüssel den selbsterkl­ärten Anwalt der EU-Erweiterun­g schon wegen unzulässig­er Handelssan­ktionen gegen EU-Anwärter Serbien zurückpfei­fen. Balkantrot­z bestimmt auch Kroatiens Umgang mit den anderen nicht minder starrsinni­gen exjugoslaw­ischen Nachbarn: Die Rücksicht auf nationalis­tische Empfindlic­hkeiten im Inneren erschwert Zagreb die Kompromiss­suche. Doch das Dauergezän­k mit fast allen Nachbarn isoliert Kroatien in Brüssel – und hat dem Land den Ruf als neues EUProblemk­ind beschert.

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