Das Problem ist der Neokolonialismus
Sylvestre Bisimwa über das Kongo Tribunal und die fatale Logik der globalen Warenströme
Herr Bisimwa, welche Reaktionen hat der Film in Kongo bisher ausgelöst?
In der Demokratischen Republik Kongo hat das Tribunal unglaubliche Wellen geschlagen: Denn obwohl es sich um eine Fiktion handelt, sieht man im Film, wie die tatsächlichen Opfer von Gewalthandlungen zu Wort kommen. Das Essenzielle war, dass sie ihre Meinung in einem geschützten Rahmen frei zum Ausdruck bringen konnten; sie konnten sich darauf verlassen, dass es einen Vorsitz, eine Jury und einen Richter gab und dass die formellen Regeln eines Tribunals eingehalten wurden.
Der Film weist über Kongo hinaus, nicht wahr?
Ja. Der Film stand auch beispielhaft dafür, wie Gerechtigkeit aussehen könnte. Das Tribunal hätte in einem beliebigen unterentwickelten Land des Südens stattfinden können, etwa in Nicaragua oder auf den Philippinen. In unserem Prozess werden nämlich zwei Probleme behandelt, die in einer Vielzahl von armen Ländern auftreten und die strukturell bedingt sind: erstens die Verantwortungslosigkeit der lokalen Behörden gegenüber ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Dies betrifft die Frage der Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen sowie die Frage der ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Zweitens geht es um die Passivität der Internationalen Gemeinschaft und die fatale Logik der globalen Warenströme.
Ihr Ziel ist es, an mehreren Orten der DR Kongo Tribunale auszurichten. Wie gehen Sie dabei vor?
Milo Rau hat eine Spendenkampagne in Europa initiiert, die es uns ermöglicht hat, die DVD des Filmes zu pressen und zu verbreiten. Indem wir mit dem Film durch das Land reisen, werden wir gleichzeitig die Möglichkeiten evaluieren, an verschiedenen Orten Tribunale zu organisieren. Dafür haben wir ein achtköpfiges Komitee zusammengestellt. Wir werden nach den Screenings mit den Betroffenen darüber diskutieren, ob sie sich ein Tribunal in ihrer Region wünschen. Die lokale Zivilgesellschaft soll dabei eine maßgebliche Rolle spielen. Wenn die Betroffenen zustimmen, werden wir sondieren, welche konkreten Fälle wir behandeln wollen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: In Kasika, einem Dorf, das rund drei Autostunden südwestlich von Bukavu liegt, wurden bei einem Massaker rund ein Dutzend Frauen bei lebendigem Leib begraben. Danach hat es niemals einen Prozess gegeben. Wir sind davon überzeugt, dass die Betroffenen Gehör finden müssen. Die Gemeinde hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Wer sind die Schuldigen und wo halten sie sich auf? Warum leitet der Staat keine Untersuchungen ein? Wie viele Tribunale soll es geben und was ist Ihr politisches Ziel?
Je nachdem welche finanziellen Mittel wir durch die erwähnte Spendenkampagne in Europa sammeln können, planen wir, alle sechs Monate oder einmal pro Jahr ein Tribunal abzuhalten. Unser wichtigstes Ziel ist es, dass die Menschen den Mut finden, zu sprechen. Damit erhoffen wir uns, den kongolesischen Staat in die Pflicht zu nehmen. Es liegt in seiner Verantwortung, ein offizielles, rechtlich abgesichertes Tribunal abzuhalten. Außerdem wollen wir die internationale Gemeinschaft in die Pflicht nehmen. Denn im Westen weiß man oft nicht, was sich in der DR Kongo wirklich abspielt. Drittens geht es darum, die Rolle der multinationalen Konzerne aufzudecken. Falls Roh- stoffkonzerne nachweislich in Verbrechen involviert waren oder von ihnen profitieren, müssen sie vor einem Gericht angeklagt werden können. Kurzum: Wenn weder die kongolesische Justiz noch die Internationale Gemeinschaft agiert, müssen wir den ersten Schritt tun.
Das Ende der Gewaltherrschaft in Kongo von Belgiens König Leopold II. im Jahr 1908 kam nicht zuletzt durch eine groß angelegte internationale Menschenrechtskampagne zustande. Denken Sie, dass es möglich ist, durch internationale Mobilisierung heute einen ähnlichen Erfolg zu erzielen?
Unser Projekt zielt auf eine Kritik des Neokolonialismus ab. Heute sehen wir, dass multinationale Konzerne durch die herrschenden Steuer- und Finanzregelungen auf allen Ebenen begünstigt werden. Dies geht auf Kosten der Bevölkerung des Globalen Südens. Es liegt an den afrikanischen Regierungen, sich zu erheben und sich zur Wehr zu setzen. Der Preis der Rohstoffe auf dem internationalen Markt steht in eklatantem Widerspruch zum Lohn, den ein Coltan- oder Goldschürfer in der Region Kivu erhält. Wir fordern, dass die Menschen, die die Rohstoffe produzieren, die für den Westen so wichtig sind, vom Reichtum ihrer Länder profitieren können. Dazu will unser Projekt einen Beitrag leisten. Die Anhörungen in Berlin (an denen unter anderem die Soziologin Saskia Sassen, der Sozialpsychologe Harald Welzer sowie Mitarbeiter*innen des in Berlin ansässigen Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte teilnahmen, d. Red.) hatten zum Ziel, diese neokolonialen Strukturen zu durchleuchten. Es ist also absolut notwendig, in den Ländern des Nordens aktiv zu werden und die Geschäftspraktiken der Großkonzerne unter die Lupe zu nehmen. Die UNO, die Institutionen der Europäischen Union sowie die Regierungen der einzelnen Länder des Westens müssen endlich handeln. Wir wollen, dass multinationale Konzerne, die für Menschenrechtsverletzungen in Ländern des Globalen Südens mitverantwortlich sind, vor einem Gericht angeklagt werden können.