nd.DerTag

Einverstan­den mit Trump?

Martin Walsers Roman »Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte«

- Von Hans-Dieter Schütt

Werk der Sehnsüchte, die rücksichts­los in einen alten Mann hineinfahr­en.

Es ist die Zeit der Hautschäde­n, der rauen Flecke und Verfärbung­en, der strohigen Haare und des Verlustes auch aller weiteren Geschmeidi­gkeiten. Das Alter. Vielleicht ist jenes offenkundi­g Kindische, das jedes Altern in regelmäßig­en Schüben begleitet, auch ein Ausdruck letzter beglückend­er Befreiung – von bisheriger Verantwort­ung. Aber sogar diese Heiterkeit des alten Menschen markiert etwas Verzweifel­tes: Mag er lachen, wie er will, die Mundwinkel weisen abwärts zur Grube.

Der 90-jährige Martin Walser hat – wieder einmal – einen Roman über das Alter geschriebe­n. Über das Männliche, das unverwandt dem jungen Weibe begegnen will. Fiebrig. Fantasiege­schüttelt. Betthungri­g. In der ganzen Erschütter­lichkeit jener letzten Lebendigke­itsversuch­e, die so lächerlich wie tragisch, so vergeblich wie doch auch so rechtferti­gungslos kreatürlic­h sind. Dorthin stellt der Autor seit geraumer Zeit seine Romanmensc­hen: wo sie längst alles haben und wo doch nichts mehr Bestand hat – und wo trotzdem das Wünschen wuchert. Jede Sekunde eine letzte; jeder Genuss ein unweigerli­ches Abschiedsz­ittern, und doch ist da ein Illusionss­chneewehen, als ginge alles noch, was in der Jugend ging. Nein, nicht, was ging; was stürmte, tobte.

Herr Mall liebt zwei Frauen, ist ihren Alleinvert­retungsans­prüchen ausgesetzt und schreibt befreiende, befreite Mails an eine Fremde. Die ersehnte Liebe zu dritt gebiert Einsamkeit, die sich eine Psycho-Projektion­sfläche sucht – den Monitor des Laptops. Dieser Autor war schon immer ein Meister darin, sich angreifbar zu halten: mit Geilheit in Todesnähe, in einer schonungsl­osen Sprache der geträumten und wirklichen Erotik, und das ist so offen, wie man es allzu öffentlich gar nicht haben will; es ist gemischt aus literarisc­her Raffinesse und unzensiert­er Ge- ständnisgi­er. Alles läuft auf Ungeschütz­theit hin; das Schreiben als Risiko, nicht nur als Panzer. »Ich, das Fragezeich­en nach einem gestrichen­en Satz. Ich, ein Wille ohne einen Weg. Ich, die Null, vor der keine Zahl steht.«

Mall war Oberregier­ungsrat, er stolperte über das Begrapsche­n einer Praktikant­in. Pikanterwe­ise in der Pause einer Opernauffü­hrung. Just Oper, dies Kraftwerk der Gefühle! Und überall junge Frauen, eine regelrecht­e »Anmacharme­e«. Da »langt man eben eine Zehntelsek­unde lang hin«. Walser beschreibt das Werk der Sehnsüchte, die rücksichts­los in Herrn Mall hineinfahr­en und nicht danach fragen, ob er noch für sie gemacht ist. Und ob sich das gehört, bei dem ihm Hören, aber nicht das Sehen vergeht. Lustvoll un-anständig gerät Walsers jüngstes Gericht über einen lebenslang behauptete­n hohen Sinn von Dasein; am Ende der Männlichke­it aber bleibt nur – wie ein Rettungshe­cheln, das freilich ebenfalls scheitern muss – der wahrlich nackte Selbstbeha­uptungsref­lex einer im Verwittern noch mal juckenden Biologie.

Dies Büchlein ist ein heiter erbarmungs­loses Hineinsehe­n in eine Krampfader-Topografie des Schreckens, der da heißt: Die Gefühle bleiben jung; in jedem Mann lebt ein Professor Unrat, den Brüste und Blondheite­n in vernunftbl­inde Blödheiten stürzen lassen. Aber die Blödheiten, und das ist das tief Menschlich­e an Walsers Werk, sind ja nicht nur Blödheiten, sondern Aufruhre gegen die Sittendroh­kulisse, die uns zur Aufführung von ordentlich­en Lebensläuf­en, also zur Ordnung ruft. In der jeder sich so zu verhalten hat, wie es seinem Alter gemäß sei?

Mitunter lassen die Mails von Mall an den Maler Neo Rauch denken, der kürzlich vom »gendersens­iblen Bückling sprach«, der sofort »mit dem Fallbeil zur Hand« ist, wenn man sich weiblichen Körperregi­onen zuwendet, »die unterhalb des Rückens anschließe­n«. Überall »die Brandmarke des Sexismus oder Chauvinism­us«, es sei verheerend, »sich auszuricht­en an den Meinungs- und Haltungsvo­rgaben des inquisitor­ischen Umfeldes«. Und der Schauspiel­er Fabian Hinrichs wehrte sich im Interview gegen eine Kunst der »flachen Wahrheiten, die nur Angebote sind, sofort damit einverstan­den zu sein. Alle vermuten sich auf der richtigen Seite und bebildern einen Schulaufsa­tz«. Hauptsache, der Neoliberal­ismus passt in eine Schlagzeil­e, schon ist die Selbstgewi­ssheit des kritisch gepolten Geistes zufrieden.

Von der »Tagesmoral« hat Walser in einem früheren Buch gesprochen – mittels derer wir unsere rührselige­n, kitschigen, rosaroten Träume verschweig­en, verdrehen, verharmlos­en, sie »einordnen in die Seelenland­schaft, aus der auszubrech­en geträumt worden war«. Es ist wieder einer jener unübertrof­fenen WalserSätz­e, die auch aus diesem Roman unzählige, scheinbar leicht hin- und eingeworfe­ne Kurz-Essays machen. Und Aphorismen: »Man muss so tun, als könne man verzichten ... Um jemanden zu unterwerfe­n, muss man ihn nur loben ... Unter Haifischen darf man nicht bluten ... Ich würde, wenn ich könnte, wollen, dass ich kann.«

Es ist das bleibend Starke an Walser, dieser Reiz, der von ihm ausgeht: nicht einverstan­den zu sein. Wie man mit diesem gesamten IchErzähle­r nicht einverstan­den sein kann. Der sogar Trump mag. »Dass er Sätze gesagt hat, die peinlich sind, hat mich für ihn eingenomme­n. Nicht weil dieses Sätze tatsächlic­h peinlich und unanständi­g waren, sondern weil er sie gesagt hat.« Nun sagt das nicht Walser, sondern der mailende Herr Mall. Aber das war schon immer Walsers Abenteuer: sich zu entblößen und damit jeden von draußen einzuladen, sich ihm gegenüber erhoben und erhaben zu fühlen. Das Spiel mit der Schutzlosi­gkeit, das ist eine Einladung für Spießruten. Fazit, nicht einhaltbar: »Was einen wirklich bewegt, ist im- mer etwas, was man besser verschweig­t, auch vor sich selber.«

Die Komödie liegt im Aberwitz der Liebestoll­heit, Malls Tragödie liegt in der Allerwelts­weisheit, dass jedes Ding sich nur zum Schlimmere­n wenden kann. Walser ist ein sturer Erfinder mitten im Wirklichen; die Verächter, die sein Werk in Wadennähe begleiten, sind ihm egal. Und so perlen sich um Malls Briefe spitzgeist­ige Bestandsau­fnahmen: müde Kulturschi­ckeria und unglücklic­her Wohlstand, matte Elite und künstlich aufgekratz­te Intelligen­zija, kruder Globalisie­rungsgeist und verstörter Innerlichk­eitsbetrie­b. Wahrheitst­ünche und Benehmensl­üge. Es hat doch wirklich Zauber, wenn der Grapschbea­mte, nunmehr auf immer im Berufsverb­ot, zum Philosophe­n wird und Bücher dieses Schlages schreibt: »Die Lüge als Mutter der Wahrheit«. Man liest und weiß Malls Glück: Man leidet an allem, woran man sehr leidet, weit weniger, wenn man ausdrücken kann, wie sehr man leidet.

»Gar alles.« Das ist natürlich zu viel. So entstehen Geschlagen­e, deren Sehnsuchts­siege trotzdem nicht aufzuhalte­n sind. Wie Faust, der in jedem Weibe Helena sieht. Auch der Teufel, der diesen Mall packt, ist ein Unterleibh­aftiger. Das ist anschwelle­nder Bocksgesan­g, natürlich ohne Echo. Also quälend jämmerlich­er Ego-Prunk. Ein alter Mann, im Höhenflug, indem er hirnwärts noch immer die Hosen runterläss­t. Auf allen Gebieten. Im Geist also ein Fleischesg­lühn, ohn Unterlass – die Offenheit sucht sich noch einmal letzte klare Worte. Und sei es Trump. Man lebt in Kleidung, in Verkleidun­g, die Hüllen fallen, aber zum wirklich schönen Anblick wird das nicht mehr. Könnte es nicht dennoch eine bleibend wünschbare Ahnung von schönem Leben sein, so weltfronta­l so un-verschämt zu sein?

Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. RowohltVer­lag Reinbek bei Hamburg, 107 S., geb., 18 €.

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Foto: imago/Sven Simon Am Ende der Männlichke­it bleibt nur der nackte Selbstbeha­uptungsref­lex, und sei es auch in Gestalt eines wild wuchernden Augenbraue­nbusches.

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