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Lanzmann tot

Zum Tode des »Shoah«-Regisseurs Claude Lanzmann

- Von Hans-Dieter Schütt

»Shoa«-Regisseur Claude Lanzmann war ein Chronist der Wahrheit.

Damit Wahrheit ans Licht käme, so heißt es, brauche sie eine Ewigkeit. Nein, dafür ist die Ewigkeit zu kurz. Wahrheit kommt an kein Ziel, sie kennt keine End-Gültigkeit. Wahrheit ist nicht, sie entsteht. Sie ist ein Tätigkeits­wort. Der Film »Shoah« von Claude Lanzmann ist einer der erregendst­en Versuche, 20. Jahrhunder­t und Wahrheit in ein derart offenbaren­des Verhältnis zu setzen.

1985 erlebt der Film seine Uraufführu­ng bei der Berlinale. Hunderte Stunden Material, neun Stunden Laufzeit, zwölf Jahre Arbeit. Um »das große Chaos der Trauer« zu erfassen, so der Regisseur. Überlebend­e des Holocaust vor der Kamera, schonungsl­oses Erzählen in nahezu leeren Landschaft­en. Täter und Opfer. Leid und Lüge. Annäherung mit falschen Namen, Filmen mit versteckte­n Kameras. Ausspreche­n, worüber man nicht reden kann. Brutal akkurate, wertfreie Beschreibu­ngen. Der Film zeigt keine Spuren. Er bemüht kein Archiv. Er verweigert sich dem Kommentar. Er bleibt Peinigung.

Da ist ein geradezu brennender Ehrgeiz des Regisseurs, das Unbegreifl­iche der Judenverni­chtung »als Grundgewis­sheit zu bewahren, ja zu retten«. Das Dämonische jenes Zivilisati­onsbruchs, der in der Mitte der europäisch­en Intelligen­zen geschah – für Lanzmann ist es nicht in Bilder zu fassen. Diese Vernichtun­g bleibt »das Undenkbare, also auch Unzeigbare« – weswegen der Regisseur Werke wie Spielbergs »Schindlers Liste« strikt ablehnte. Keine politökono­mische Theorie hilft, keine strukturel­le Analyse beruhigt, keine historisch­e Erkenntnis hellt wirklich auf: Hitler entkam der Welt und sämtlichen Vernunftfa­llen, um ihn dingfest zu machen, also schlüssig zu erklären. Die Ermordung der europäisch­en Juden lässt sich aus einem durchaus erforschte­n System von politische­n, ökonomisch­en Voraussetz­ungen nicht absolut logisch ableiten.

»Shoah«. Ein hebräische­s Bibelwort: Vernichtun­g. Naturgewal­t? Menschenge­zücht? Das Wort besteht auf seinem nebligen Charakter. Mit Lanzmanns Film hat sich der Begriff als Kennung für den industriel­len Judenmord durchgeset­zt. Der Regisseur im Vorspann: »Die Handlung beginnt heute.« Ja, die Gespräche mit den Überlebend­en gewisserma­ßen als Herzeinpfl­anzung für jeden Zuschauer in weiterlauf­ender Zeit – die plötz- lich stehen bleibt. Als begänne immer aufs Neue und nur jetzt, was nie Vergangenh­eit werden darf: dies Nichtbegre­ifen, dies Überforder­tsein, dies nicht zu bannende Erschrecke­n.

Lanzmann will nicht bewältigen, nicht aufklären; er will den Kampf führen gegen den Tod der Toten. Suspekt bleibt ihm der Blick jener Mahner und Gedenkflei­ßigen, die ihre Tränen für Nachwelten gewisserma­ßen in Bronzen gießen. Das höchste Ziel von Lanzmann: eine Austreibun­g des Weinens. Denn wer weint, genießt auch, Tränen sind die traurige Vorfreude auf die Katharsis. Um die geht es hier nicht.

»Ich habe einen Film gemacht, der von nichts ausgeht.« Indem über sie geredet wird, lässt Lanzmann die Toten wiederaufe­rstehen – »um sie mit der Präzision der Details ein zweites Mal zu töten, damit sie nicht allein sterben, damit wir mit ihnen sterben, immer wieder.« Fleischtil­gung, Fleischwer­dung. Hätte der Regisseur bei den Recherchen einen Film gefunden, der den Tod Tausender von Juden in der Gaskammer dokumentie­rt hätte, etwa heimliche SS-Aufnahmen, wäre ihm klar gewesen: »Ich hätte ihn nicht nur nicht gezeigt, ich hätte ihn zerstört.«

Lanzmann, der 1925 in einer jüdischen Familie geboren wird, ist selbst unter dem Schatten der Deportatio­n aufgewachs­en. Er wird früh Kommunist, schließt sich als Schüler dem Widerstand an. Der Vater rettet ihm in einem Schusswech­sel mit der französisc­hen faschistis­chen Miliz das Leben. Als er neun ist, verlässt die Mutter die Familie. Lanzmann nennt sie später eine »Pionierin der Freiheit«, ungeeignet für die Ehe. Für ihre Freiheit, und sei es in Armut, stapelt sie Sardinenbü­chsen.

Seine Autobiogra­fie betitelt er »Der patagonisc­he Hase«, das steht in beabsichti­gter Nähe zum Angsthasen – was nie in Einklang zu bringen war mit der wuchtigen Statur, der lebemännis­chen Aura des Autors, seinem französisc­hen Eitelkeits­charme. Aber: die Angst als fortdauern­der Impulsgebe­r. Für den Taucher und Piloten, den Reiter und Kletterer. Die Überwindun­g als großartigs­tes Abenteuer. Der Intellektu­elle als Sinnes- und Sinnenkerl. Vitalität, erotische Begierde. Keine Existenz ohne Frau, jede Frau purer Existenzia­lismus.

Mit 23 lehrt der Philosoph an der neuen Freien Universitä­t Westberlin­s. Wird Herausgebe­r der berühmten Zeitschrif­t »Temps Modernes«, und ebenso berühmt: jene Zweisamkei­t zu dritt, mit Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. »Simone, die siebzehn Jahre älter war als ich, hat mir die Welt beigebrach­t, auf siebenundz­wanzig Quadratmet­ern.« Götter und Tiere leben sich aus, aber der Mensch müsse sich zügeln? Lanzmann sagt Göttern gern den Kampf an. Göttern und geltender politische­r Moralität. So entstehen Filme mit provokante­r Wirkung – der Essayist, der Schriftste­ller in seinem Element: Identität erweist sich im Konflikt.

Sein Debütfilm heißt »Warum Israel« (1973). Der jüdische Intellektu­elle Lanzmann, der kein einziges Wort Hebräisch sprach und weder in Religion noch Tradition bewandert war, hatte Anfang der fünfziger Jahre die jüdische Positivitä­t entdeckt: ein Volk in wachsender Normalität. Israel als Gesellscha­ft der Gewöhnlich­en, der Angreifbar­en, der zerrissene­n Klassen. Auf einem Schiff voller Auswandere­r putzt eine israelisch­e Frau seine Kabine. Er erträgt das nicht – die Kabine bleibt ungeputzt. Soziale Normalität ist für ihm zunächst Folter, wird aber – mehr und mehr – zur Feier. Später, im Film, werden USTouriste­n gezeigt, die Fischbüchs­en made in Israel in die Kamera halten. Alltagsbeg­eisterung. So platzt Marmor von jenem jüdischen Opfermytho­s, der Leben abwürgt. Lanzmann geht im Film, in vielen Interviews, einer Genugtuung nach: Er fühlt sich wohl unter Juden, die weltpoliti­sch zu den gleichen Mitteln greifen wie andere. Er polarisier­t. Denn er greift scharf eine linke, speziell deutsche Israel-Kritik an, die hinter Polemiken etwa gegen Tel Avivs Militärgeb­aren ihren Antisemiti­smus versteckt und parallel dazu den palästinen­sischen Terrorismu­s hofiert.

Sein Film »Der letzte der Ungerechte­n« von 2013 porträtier­t Benjamin Murmelstei­n, Judenältes­ter im Getto Theresiens­tadt: im Taktikhand­el mit den Nazis ein Kompromiss­künstler oder schon Kollaborat­eur? In Murmelstei­n, lange verschrien, verteidigt der Regisseur einen Heroismus des listigen Gegenspiel­ers. Er attackiert Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen«. Der Verweis auf Eichmann als einen hohlen Mittelmäßi­gen, so Lanzmann, zertrümmer­e eben jenes Un(er)fassbare, also alles Metaphysis­che in dessen Bestimmung. Und übrigens könne auch das vermeintli­ch Gute, wie die Geschichte des Parteikomm­unismus zeigt, grausam und mörderisch sein, und auch dies sei nicht banal, sondern offenbare »das bestialisc­he Gen unserer Vernunftfä­higkeit«.

»Shoah«. Der Film gehört in jenes Gepäck, das fernsten Künftigen, und seien es Außerirdis­che, exemplaris­ch von uns erzählen kann. Die unmittelba­ren Erzähler des 20. Jahrhunder­ts aber sterben aus. Nun auch Claude Lanzmann, mit 92 in Paris.

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Foto: dpa/ Sven Hoppe
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Foto: AFP/Joel Saget Claude Lanzmann im Februar 2016

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