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Fußball weg

Tausende Fußballtou­risten besuchten Kasan, eine Vorzeigest­adt für das Zusammenle­ben der Religionen

- Von Jirka Grahl, Kasan

Die bunte Stadt Kasan ist zum letzten Mal WM-Spielort.

An diesem Wochenende gibt es die letzten WM-Spiele außerhalb von Moskau und St. Petersburg. In Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, fand man die Invasion der Fußballhor­den bereichern­d. Mit dem Fußball kamen auch die Gäste zu Jitzak Gorelik. Es waren Besucher, wie er sie nicht so oft und vor allem nicht so zahlreich in seiner Synagoge in der Profsojusn­aja Ulitza versammelt sieht: Junge Juden aus Argentinie­n, aus Frankreich, aus Spanien und Israel. Manche waren noch heiser von den Gesängen, mit denen sie durch die Fußgängerz­onen der drittgrößt­en russischen Stadt gezogen waren, andere einfach ruhebedürf­tig. Man betete gemeinsam, man aß zusammen, man redete über Gott und die Welt. »Unsere Synagoge ist in diesen Tagen niemals leer«, freut sich der Rabbi, »so wird es auch am Freitag sein.« Dann wird die Hauptstadt Tatarstans mit dem Viertelfin­ale Brasilien-Belgien ihr letztes WM-Spiel ausrichten.

Gorelik ist in den 90er Jahren aus Israel nach Kasan gekommen, um die alte Synagoge von 1915 wieder mit religiösem Leben zu erfüllen. Zu Sowjetzeit­en wurde das Gebäude als Theater genutzt, seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n wieder als Gotteshaus. An großen Festtagen kommen heute 500, 600 Besucher. Als jüdisch bezeichnet­en sich bei der letzten Volkszählu­ng im Vielvölker­staat Tatarstan etwa 10 000 Menschen. 3,7 Millionen Einwohner hat die Autonome Republik. Gorelik nennt dieses Turnier eine Bereicheru­ng, für die Juden in Kasan, vor allem aber auch für die Besucher: »Die Leute waren positiv geschockt von Russland. So freundlich und so schön hatten sie sich dieses Land nicht vorgestell­t.«

Tatsächlic­h sticht Kasan neben dem brodelnden Moskau und dem pittoreske­n St. Petersburg nicht nur durch besondere Anmut hervor. Die Stadt, in der sich der gestaute Kasanka-Fluss in die mächtige Wolga ergießt, gilt als Beispiel für das friedliche Zusammenle­ben verschiede­nster Ethnien und Religionen. Die jüdische Gemeinde spielt nur eine Nebenrolle, den größten Teil der Bevölkerun­g machen die muslimisch­en Tataren aus – etwa die Hälfte der Bevölkerun­g. Knapp 40 Prozent der Bevölkerun­g in der Republik Tatarstan sind ethnische Russen, viele von ihnen christlich-orthodoxen Glaubens.

Gut zu beobachten ist das am Kasaner Kreml. Hinter dessen weißen Mauern erheben sich nicht nur die runden Türme der orthodoxen MariäVerkü­ndigungs-Kathedrale, die 2005 zur Tausendjah­rfeier der Stadt aufwendig restaurier­t worden ist, sondern auch die Minarette der Kul-Scharif-Moschee, die zum großen Stadtjubil­äum fertiggest­ellt wurde. Die Baumeister, die dank großzügige­r Finanzieru­ng durch den russischen Staat und reichlich Spenden aus Saudi-Arabien, Iran und Katar aus dem Vollen schöpfen konnten, haben dabei eine Moschee entworfen, die einem Disneyfilm entsprunge­n sein könnte. Die vier weißen Minarette und das himmelblau-betörende Dach glitzern nicht nur im Dunkeln wie aus 1001 Nacht.

Die Moschee ist offen für Frauen und Männer. An den Türen verteilen Frauen Röcke, mit denen die WMTouriste­n ihre Beine bedecken sollen, wenn sie auf die Empore im Gebetsraum treten. Es gibt Platz für 700 Männer und 300 Frauen, gebetet wird unter einem gigantisch­en Kronleucht­er, den der König von Saudi-Arabien bezahlt hat. Tatarstan mit seinen vielen Moscheen gilt als das nördlichst­e Zentrum des Islams, der hier allerdings viel weltlicher geprägt ist als beispielsw­eise in den Regionen des Nordkaukas­us.

Als Gründer Tatarstans gelten die Wolgabulga­ren, die sich hier vor mehr als 1000 Jahren ein erstes Staatsgebi­lde formten. Drei Jahrhunder­te später fiel nach langer Gegenwehr die Goldene Horde der Mongolen in Tatarstan ein und regierte ein paar Jahrhunder­te, ehe schließlic­h Iwan der Schrecklic­he Kasan eroberte. Seither gehört Tatarstan zu Russland. In der Sowjetunio­n war Kasan die Haupt- stadt der Autonomen Tatarische­n Sowjetrepu­blik. Als Teil der Russischen Föderation gründete sich nach dem Zusammenbr­uch der UdSSR schnell eine eigene Republik und hatte bis vor einem Jahr die meisten Sonderrech­te aller Autonomen Republiken des Staates. Dank der Erdölvorko­mmen und einer starken IT-Industrie sowie einiger prominente­r Unternehme­n wie des Lkw-Hersteller­s Kamas ist Kasan die Hauptstadt einer der boomenden Regionen des Riesenland­es. Kasan liegt auf Platz eins bei der Umfrage nach der lebenswert­esten Stadt Russlands.

In diesen Tagen, wo die Goldenen Horden der Touristen in Kasan eingefalle­n sind, betont man besonders das Bild vom Dialog der Religionen und Ethnien, die in der 1,2-Millionen-Einwohner-Stadt Kasan zusammenle­ben. »Wir haben hier in Tatarstan 173 verschiede­ne Volksgrupp­en«, sagt Irek Schapirow. Der ehemalige Journalist leitet die tatarische Organisati­on »Haus der Völkerfreu­ndschaft«, die an acht Standorten in Tatarstan ihre Häuser betreibt: Kulturzent­ren, in denen die großen Volksgrupp­en ihre Bräuche pflegen mit Tänzen, Festen oder Kunstausst­ellungen. Außer den Russen und Tataren feiern auch die Tschuwasch­en, die Udmurten, die Mordwinen, die Mari, die Ukrainer und so viele andere. Auch 2200 Deutsche gibt es in der Autonomen Republik. »Die Völker leben hier so friedlich zusammen, unsere ganze Stadt ist ein Haus der Freundscha­ft. Und an den Tagen der WM gilt das natürlich besonders.«

Tatarstan ist geprägt vom gedeihlich­en Miteinande­r der großen Ethnien, den Russen und den Tataren. Fünf Millionen Tataren gibt es in Russland, nur zwei Millionen leben in Tatarstan. Kasan will die Hauptstadt aller Tataren sein. Das Tatarische wird allerorten gepflegt. Amtssprach­en sind sowohl Russisch als auch Tatarisch, in den Schulen ist Tatarisch erste Fremdsprac­he. Allerdings sprechen auch hier immer weniger junge Leute die Sprache. Jüngst kam Empörung auf, weil der Tatarisch-Unterricht auf nur noch zwei Stunden wöchentlic­h reduziert werden soll. Ist Tatarisch dem Untergang geweiht? Viele Schülerinn­en und Schüler sehen es gelassen: »Wir lernen da ehrlich gesagt eh nicht viel«, sagt beispielsw­eise Julia, 16, die bei der WM während der Ferien als Freiwillig­e hilft. »Meistens schauen wir Filme oder lesen Bücher von tatarische­n Dichtern. Auf Tatarisch kann ich kaum etwas sagen, die meisten meiner Mitschüler auch nicht.« Die Lehrer hätten einfach keine Lust, sagt sie. »Ich lerne lieber Englisch.«

Über allem thront der Kreml, über den die Kasaner sagen, seine Wände seien weiß, weil man sich im Gegensatz zu den Moskauern für nichts zu schämen habe – die Mauern des Moskauer Kreml sind rot. Wer von der Aussichtsp­lattform an der Kathedrale über den Kasanka-Stausee blickt, sieht die Kathedrale dieser WM-Tage: Das schmucke Stadion, in dem sonst der Erstligist Rubin Kasan spielt. Es wurde 2013 für die Universiad­e eröffnet, eines der Sportgroße­reignisse, wegen derer sich Kasan längst die Sporthaupt­stadt des Landes nennt. Das Athletendo­rf von damals ist heute ein Campus der Kasaner Universitä­t. Es gab hier Weltmeiste­rschaften im Schwimmen, Gewichtheb­en oder Fechten.

In der Stadt hat man sich an die Großereign­isse gewöhnt, wenngleich, da sind sich alle einig, die Fußball-WM der absolute Höhepunkt war: Rabbi Gorlik sagt, die WM sei ein Gewinn gewesen, auch für die Jüdische Gemeinde, die so viele Neues aus der Welt erfahren habe. Die Teenagerin Julia, die wie die meisten jungen Kasanerinn­en und Kasaner jeden Abend in der Fußgängerz­one an der Ulitza Baumana unterwegs ist, ist sogar »ein bisschen traurig«. Trotz der 173 Volksgrupp­en, die sich in der Republik tummeln, ist ihr Kasan in der WMfreien Zeit zu eintönig. Sie hat beschlosse­n zu reisen: »Wenn ich die Schule fertig habe, will ich Europa kennenlern­en«, sagt sie lachend: »Und dann ziehe ich singend durch Eure Shopping Malls.«

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Foto: dpa/Ina Fassbender
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Foto: imago/ITAR-TASS Die Moschee in Kasan ist ein Symbol für das friedliche Zusammenle­ben.
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Foto: imago/ITAR-TASS Der mit Portugal ausgeschie­dene Cristiano Ronaldo als Wandbild Kasan sticht neben dem brodelnden Moskau und dem pittoreske­n St. Petersburg nicht nur durch besondere Anmut hervor. Die Stadt, in der sich der gestaute Kasanka-Fluss in die mächtige Wolga ergießt, gilt als Beispiel für das friedliche Zusammenle­ben verschiede­nster Ethnien und Religionen.
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Foto: dpa/Christian Charisius In der Arena in Kasan verlor Deutschlan­d gegen Südkorea.
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Foto: nd/Jirka Grahl Rabbi Jitzak Gorelik

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