Sprachstörung in Brüssel
Dolmetscher des EU-Parlaments wehren sich gegen längere Arbeitszeiten
Straßburg. Die Kommunikation in der EU ist empfindlich gestört – vor allem wegen gravierender Differenzen in der Asylpolitik reden etliche Mitgliedsstaaten mehr gegeneinander als miteinander. Nun aber kommt es zu einer ganz direkten Sprachstörung in der EUZentrale: Die Dolmetscher des Europaparlaments haben den Arbeitskampf ausgerufen, nachdem die Parlamentsverwaltung ihre Arbeitszeiten verlängert hat – ohne Abstimmung mit den Beschäftigten, wie Gewerkschafter kritisieren. Sie wollen die Streikmaßnahmen fortsetzen und verschärfen, bis die alten Bedingungen wieder hergestellt sind.
Rund 270 fest angestellte und 1800 freiberufliche Übersetzer arbeiten bei der EU. Ohne sie geht in der Mammutbehörde mit 24 Amts- und Arbeitssprachen nichts. Sie können zu mehr außerordentlich frühen oder späten Einsätzen beordert werden. Die maximale Zeit, die sie am Tag in der Dolmetscherkabine verbringen dürfen, wurde auf acht Stunden ausgeweitet. Bei der UNO ist die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden begrenzt. Zudem seien die Ruhezeiten angesichts des anstrengenden Jobs zu kurz, sagen die EUÜbersetzer. Hinzu kämen häufige spontane Planänderungen.
Was ein Übersetzerstreik bedeuten könnte, darauf bot eine Sitzung des EU-Parlaments in dieser Woche einen Vorgeschmack. Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow musste mit seiner Rede warten, weil die zentrale Stromleitung zu den Dolmetscherkabinen gekappt worden war und die Reparatur blockiert wurde. In diesem Fall waren die Verursacher Abgeordnete, die sich mit dem Anliegen der Dolmetscher solidarisch zeigen wollten. Beim nächsten Mal könnten es die Übersetzer selbst sein, die das Parlament lahmlegen. Die Delegation der deutschen Linkspartei im EU-Parlament unterstützt die Forderungen der Dolmetscher.
Die Dolmetscher des Europaparlaments wehren sich gegen längere Arbeitszeiten und kürzere Ruhepausen. Ohne sie ist das Haus arbeitsunfähig – gute Ausgangsbedingungen für einen Arbeitskampf. 24 Amtssprachen hat die Europäische Union. Wenn bei Sitzungen und Kongressen jeder seine Sprache spricht und von allen verstanden werden soll, ergeben sich so 552 mögliche Sprachkombinationen – Gäste, etwa aus potenziellen EU-Beitrittsländern, nicht eingerechnet. Das Europäische Parlament verfügt deshalb über den größten Sprachdienst weltweit. Doch in der Dolmetscherkabine rumort es.
Die Parlamentsverwaltung hat eine Überarbeitung der Arbeitsbedingungen des Sprachpersonals beschlossen, die flexiblere und längere Arbeitszeiten vorsieht. So sollen die Dolmetscher zu mehr außerordentlich frühen oder späten Einsätzen beordert werden können. Die maximale Zeit, die sie am Tag in der Kabine verbringen dürfen, soll auf acht Stunden ausgeweitet werden und die vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen bei elf Stunden liegen. »Die Beschlüsse der Verwaltung gehen viel zu weit«, klagt eine Dolmetscherin, die als Beamtin der EU nicht über Interna sprechen darf und deshalb anonym bleiben will. Schon jetzt stünden die Dolmetscher ständig auf Abruf. Wegen spontaner Planänderungen müssten beim Privatleben häufig Abstriche gemacht werden. Bei acht Stunden in der Kabine sei dann eine rote Linie überschritten. »Das geht von der Konzentration her einfach nicht«, sagt die Dolmetscherin.
Kritisch gesehen wird auch die neue Regelung zur Ruhezeit von elf Stunden. Sie orientiere sich starr am geplanten Sitzungsende, beobachten gewerkschaftliche Vertreter. Da Sitzungen aber häufig überzogen würden, würde so »automatisch gegen die europäische Arbeitszeitrichtlinie verstoßen«, die exakt elf Stunden Ruhezeit vorsieht, prophezeien die Gewerkschafter. Sie fordern eine Ruhepause für Dolmetscher von mindestens zwölf Stunden und eine ma- ximale Kabinenzeit von siebeneinhalb Stunden am Tag.
Die Verwaltung verweist auf die Arbeitsbedingungen in anderen EUInstitutionen. In der Kommission und im Rat der Union verbrächten die Dolmetscher bis zu zehn Stunden pro Tag in der Kabine, heißt es in einer Erklärung. Die Bedingungen seien nicht dieselben, halten die Gewerkschafter dagegen. Anders als die Beamten der Kommission müssten sich die Redner im Parlament an vorgegebene Redezeiten halten, wodurch sich das Sprechtempo erhöhe. Außerdem stünden mehr und oft sehr technische Themen auf dem Programm. »Wir brauchen deshalb auch mehr Vorbereitungszeit für die Sitzungen als die Kollegen bei der Kommission«, berichtet die Parlamentsdolmetscherin.
Anfang Juni, vor den Plenartagungen des Parlaments in Straßburg, rief die Gewerkschaft erstmals zum Streik auf. Nach Angaben des Parlaments war es das erste Mal seit mindestens 1991, dass Parlamentsangestellte mit Arbeitsniederlegungen drohten. Bei einer Drohung blieb es auch größtenteils, weil die Verwaltung die meisten Streikenden zwangsverpflichtete. Die Streikwarnung der Gewerkschaft besteht weiter und wurde nun bis Ende September verlängert. Die Verwaltung hat Verhandlungen angekündigt.
Unterstützung kommt von einer Gruppe Parlamentsabgeordneter. Die LINKE unterstütze die »legitimen Forderungen der Dolmetscher«, erklärte die Europa-Fraktion der Partei vergangene Woche. Am Dienstag schritten Abgeordnete verschiedener Fraktionen zur Tat: Sie kappten eine gute halbe Stunde lang die zentrale Stromleitung zu den Dolmetscherkabinen und hinderten Techniker daran einzugreifen. Die Aktion traf die Verwaltung unerwartet: »Wir waren darauf nicht vorbereitet«, sagte eine Sprecherin des EU-Parlaments.
Der bulgarische Regierungschef Bojko Borissow musste warten, bis er zu den Abgeordneten über die Bilanz der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes sprechen konnte. Parlamentspräsident Antonio Tajani von der konservativen Europäischen Volkspartei entschuldigte sich bei ihm für die Verzögerung und warf den beteiligten Abgeordneten vor, sich wie »Gewerkschafter« zu verhalten. Das Streikrecht gehöre zum Arbeitsrecht der Beschäftigten des Europaparlaments, begründete der französische Grünen-Abgeordnete José Bové die Aktion gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Der Sprachendienst der EU-Volksvertretung zählt 269 verbeamtete Dolmetscher. Für die Plenarsitzungen verfügt er zudem über eine Reserve von rund 1800 Freiberuflern, die bei Bedarf nach Straßburg oder Brüssel reisen. Die Kosten für Dolmetscher und Übersetzer verschlingen nach Angaben des Parlaments rund ein Drittel seines Haushalts. Die Parlamentsverwaltung hat berechnet, dass durch die neuen Regelungen mehr als sieben Millionen Euro eingespart werden könnten. »Solche Zahlen sind völlig unrealistisch, selbst wenn die Regelungen voll ausgeschöpft werden«, wendet die Dolmetscherin ein. »Und dann würden wir alle auf dem Zahnfleisch gehen.«