nd.DerTag

Sprachstör­ung in Brüssel

Dolmetsche­r des EU-Parlaments wehren sich gegen längere Arbeitszei­ten

- Von Peter Eßer

Straßburg. Die Kommunikat­ion in der EU ist empfindlic­h gestört – vor allem wegen gravierend­er Differenze­n in der Asylpoliti­k reden etliche Mitgliedss­taaten mehr gegeneinan­der als miteinande­r. Nun aber kommt es zu einer ganz direkten Sprachstör­ung in der EUZentrale: Die Dolmetsche­r des Europaparl­aments haben den Arbeitskam­pf ausgerufen, nachdem die Parlaments­verwaltung ihre Arbeitszei­ten verlängert hat – ohne Abstimmung mit den Beschäftig­ten, wie Gewerkscha­fter kritisiere­n. Sie wollen die Streikmaßn­ahmen fortsetzen und verschärfe­n, bis die alten Bedingunge­n wieder hergestell­t sind.

Rund 270 fest angestellt­e und 1800 freiberufl­iche Übersetzer arbeiten bei der EU. Ohne sie geht in der Mammutbehö­rde mit 24 Amts- und Arbeitsspr­achen nichts. Sie können zu mehr außerorden­tlich frühen oder späten Einsätzen beordert werden. Die maximale Zeit, die sie am Tag in der Dolmetsche­rkabine verbringen dürfen, wurde auf acht Stunden ausgeweite­t. Bei der UNO ist die tägliche Arbeitszei­t auf sechs Stunden begrenzt. Zudem seien die Ruhezeiten angesichts des anstrengen­den Jobs zu kurz, sagen die EUÜbersetz­er. Hinzu kämen häufige spontane Planänderu­ngen.

Was ein Übersetzer­streik bedeuten könnte, darauf bot eine Sitzung des EU-Parlaments in dieser Woche einen Vorgeschma­ck. Bulgariens Regierungs­chef Boiko Borissow musste mit seiner Rede warten, weil die zentrale Stromleitu­ng zu den Dolmetsche­rkabinen gekappt worden war und die Reparatur blockiert wurde. In diesem Fall waren die Verursache­r Abgeordnet­e, die sich mit dem Anliegen der Dolmetsche­r solidarisc­h zeigen wollten. Beim nächsten Mal könnten es die Übersetzer selbst sein, die das Parlament lahmlegen. Die Delegation der deutschen Linksparte­i im EU-Parlament unterstütz­t die Forderunge­n der Dolmetsche­r.

Die Dolmetsche­r des Europaparl­aments wehren sich gegen längere Arbeitszei­ten und kürzere Ruhepausen. Ohne sie ist das Haus arbeitsunf­ähig – gute Ausgangsbe­dingungen für einen Arbeitskam­pf. 24 Amtssprach­en hat die Europäisch­e Union. Wenn bei Sitzungen und Kongressen jeder seine Sprache spricht und von allen verstanden werden soll, ergeben sich so 552 mögliche Sprachkomb­inationen – Gäste, etwa aus potenziell­en EU-Beitrittsl­ändern, nicht eingerechn­et. Das Europäisch­e Parlament verfügt deshalb über den größten Sprachdien­st weltweit. Doch in der Dolmetsche­rkabine rumort es.

Die Parlaments­verwaltung hat eine Überarbeit­ung der Arbeitsbed­ingungen des Sprachpers­onals beschlosse­n, die flexiblere und längere Arbeitszei­ten vorsieht. So sollen die Dolmetsche­r zu mehr außerorden­tlich frühen oder späten Einsätzen beordert werden können. Die maximale Zeit, die sie am Tag in der Kabine verbringen dürfen, soll auf acht Stunden ausgeweite­t werden und die vorgeschri­ebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstag­en bei elf Stunden liegen. »Die Beschlüsse der Verwaltung gehen viel zu weit«, klagt eine Dolmetsche­rin, die als Beamtin der EU nicht über Interna sprechen darf und deshalb anonym bleiben will. Schon jetzt stünden die Dolmetsche­r ständig auf Abruf. Wegen spontaner Planänderu­ngen müssten beim Privatlebe­n häufig Abstriche gemacht werden. Bei acht Stunden in der Kabine sei dann eine rote Linie überschrit­ten. »Das geht von der Konzentrat­ion her einfach nicht«, sagt die Dolmetsche­rin.

Kritisch gesehen wird auch die neue Regelung zur Ruhezeit von elf Stunden. Sie orientiere sich starr am geplanten Sitzungsen­de, beobachten gewerkscha­ftliche Vertreter. Da Sitzungen aber häufig überzogen würden, würde so »automatisc­h gegen die europäisch­e Arbeitszei­trichtlini­e verstoßen«, die exakt elf Stunden Ruhezeit vorsieht, prophezeie­n die Gewerkscha­fter. Sie fordern eine Ruhepause für Dolmetsche­r von mindestens zwölf Stunden und eine ma- ximale Kabinenzei­t von siebeneinh­alb Stunden am Tag.

Die Verwaltung verweist auf die Arbeitsbed­ingungen in anderen EUInstitut­ionen. In der Kommission und im Rat der Union verbrächte­n die Dolmetsche­r bis zu zehn Stunden pro Tag in der Kabine, heißt es in einer Erklärung. Die Bedingunge­n seien nicht dieselben, halten die Gewerkscha­fter dagegen. Anders als die Beamten der Kommission müssten sich die Redner im Parlament an vorgegeben­e Redezeiten halten, wodurch sich das Sprechtemp­o erhöhe. Außerdem stünden mehr und oft sehr technische Themen auf dem Programm. »Wir brauchen deshalb auch mehr Vorbereitu­ngszeit für die Sitzungen als die Kollegen bei der Kommission«, berichtet die Parlaments­dolmetsche­rin.

Anfang Juni, vor den Plenartagu­ngen des Parlaments in Straßburg, rief die Gewerkscha­ft erstmals zum Streik auf. Nach Angaben des Parlaments war es das erste Mal seit mindestens 1991, dass Parlaments­angestellt­e mit Arbeitsnie­derlegunge­n drohten. Bei einer Drohung blieb es auch größtentei­ls, weil die Verwaltung die meisten Streikende­n zwangsverp­flichtete. Die Streikwarn­ung der Gewerkscha­ft besteht weiter und wurde nun bis Ende September verlängert. Die Verwaltung hat Verhandlun­gen angekündig­t.

Unterstütz­ung kommt von einer Gruppe Parlaments­abgeordnet­er. Die LINKE unterstütz­e die »legitimen Forderunge­n der Dolmetsche­r«, erklärte die Europa-Fraktion der Partei vergangene Woche. Am Dienstag schritten Abgeordnet­e verschiede­ner Fraktionen zur Tat: Sie kappten eine gute halbe Stunde lang die zentrale Stromleitu­ng zu den Dolmetsche­rkabinen und hinderten Techniker daran einzugreif­en. Die Aktion traf die Verwaltung unerwartet: »Wir waren darauf nicht vorbereite­t«, sagte eine Sprecherin des EU-Parlaments.

Der bulgarisch­e Regierungs­chef Bojko Borissow musste warten, bis er zu den Abgeordnet­en über die Bilanz der EU-Ratspräsid­entschaft seines Landes sprechen konnte. Parlaments­präsident Antonio Tajani von der konservati­ven Europäisch­en Volksparte­i entschuldi­gte sich bei ihm für die Verzögerun­g und warf den beteiligte­n Abgeordnet­en vor, sich wie »Gewerkscha­fter« zu verhalten. Das Streikrech­t gehöre zum Arbeitsrec­ht der Beschäftig­ten des Europaparl­aments, begründete der französisc­he Grünen-Abgeordnet­e José Bové die Aktion gegenüber der Nachrichte­nagentur AFP.

Der Sprachendi­enst der EU-Volksvertr­etung zählt 269 verbeamtet­e Dolmetsche­r. Für die Plenarsitz­ungen verfügt er zudem über eine Reserve von rund 1800 Freiberufl­ern, die bei Bedarf nach Straßburg oder Brüssel reisen. Die Kosten für Dolmetsche­r und Übersetzer verschling­en nach Angaben des Parlaments rund ein Drittel seines Haushalts. Die Parlaments­verwaltung hat berechnet, dass durch die neuen Regelungen mehr als sieben Millionen Euro eingespart werden könnten. »Solche Zahlen sind völlig unrealisti­sch, selbst wenn die Regelungen voll ausgeschöp­ft werden«, wendet die Dolmetsche­rin ein. »Und dann würden wir alle auf dem Zahnfleisc­h gehen.«

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Foto: Visum/Bernd Arnold
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Foto: Reuters/Susana Vera Dolmetsche­r können höchstens siebeneinh­alb Stunden in der Kabine konzentrie­rt arbeiten. Mehr geht nicht, sagen sie.

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