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Die letzten Acht

Staats- und Fußballver­bandsführu­ng wollten, dass die Ukrainer das Turnier in Russland ignorieren, doch die Einschaltq­uoten sind hoch

- Von Denis Trubetskoy, Kiew

Spielt Brasilien für den Rest zu schnell? Sind die Franzosen für den Titel zu jung? Antworten gibt es jetzt im Viertelfin­ale.

Die WM-Übertragun­gen aus Russland sollten sogar verboten werden. Dazu gibt es Boykottauf­rufe, doch die ukrainisch­en Fans wollen die besten Fußballer der Welt sehen, egal wo sie gerade spielen. Präsident Petro Poroschenk­o und Außenminis­ter Pawlo Klimkin hatten sich das ganz anders vorgestell­t. Die Ukraine sollte die Fußball-WM in Russland möglichst komplett ignorieren, am liebsten sollten Ukrainer sogar auf die Fernsehübe­rtragungen des Turniers im Nachbarlan­d ganz verzichten. Doch Fußballfan­s haben ihren eigenen Kopf, und so müssen besonders seit Beginn der K.o.-Phase Kneipentis­che im Stadtzentr­um Kiews schon rechtzeiti­g reserviert werden, denn viele wollen die Weltmeiste­rschaft hier in Gesellscha­ft gucken.

In diesen Tagen gibt es in der Ukraine kaum Themen, die umstritten­er sind als die WM in Russland. Bis kurz vor Turnierbeg­inn war sogar unklar, ob sie überhaupt im Fernsehen übertragen wird. Der ursprüngli­che Rechteinha­ber, ein aus den Steuern finanziert­er öffentlich­er Sender, wollte die Spiele wegen des möglichen Imageschad­ens nicht übertragen – und verkaufte die Lizenz in letzter Sekunde an den privaten Sender Inter, der mit seiner regierungs­kritischen Agenda stets für Aufregung sorgt – und oft als prorussisc­h abgestempe­lt wird. Einige Parlaments­abgeordnet­e wollten daraufhin ein Verbot für die WM-Übertragun­g durchsetze­n, auf die Tagesordnu­ng schaffte es der Entwurf letztlich aber nicht mehr.

Für die Übertragun­gen von Inter waren die Wirren kurz vor der WM wahrschein­lich sogar kostenlose Werbung. Schon die fußballeri­sch schwache Auftaktpar­tie zwischen Russland und Saudi-Arabien hatte dem Sender eine Tageshöchs­tquote eingebrach­t, was für ukrainisch­e Verhältnis­se weniger selbstvers­tändlich ist als für deutsche.

Die Berichters­tattung des Senders sorgt jedoch auch für viel Kritik. Der nationale Fußballver­band FFU hatte sich offiziell aus Sicherheit­sgründen geweigert, die Akkreditie­rung der TV-Journalist­en für die WM im Nachbarlan­d durchzufüh­ren, doch der Sender schickte trotzdem eigene Korrespond­enten nach Russland. Kritische Berichte und Aufklärung politische­r Hintergrün­de liefern sie allerdings keine.

Dabei sind ukrainisch­e politische Gefangene in Russland derzeit das Topthema in fast allen anderen Medien. Ganz oben auf der Liste steht Kinoregiss­eur Oleh Senzow, der 2014 auf der annektiert­en Krim wegen des Verdachts auf vermeintli­che Planung einiger Anschläge festgenomm­en wurde, unter anderem auf das Büro der Regierungs­partei Einiges Russland. Bewiesen ist seine Schuld nicht, dennoch wurde er vor drei Jahren zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Exakt einen Monat vor dem WMAuftakt begann er einen Hungerstre­ik mit der Forderung, alle rund 70 Ukrainer, die seiner Meinung nach wegen politische­r Motive in russischer Haft sitzen, sofort freizulass­en. Drei von ihnen haben sich Senzow im Hungerstre­ik mittlerwei­le angeschlos­sen. Er selbst habe laut seiner Cousine Natalja Kaplan, die ihn am Donnerstag besuchte, in den vergangene­n 53 Tagen 15 Kilogramm abgenommen und fühle sich schlecht. Die Gefängnisl­eitung ernährt ihn über einen Tropf mit Vitaminen. Unter diesen Umständen betonten Vertreter der FFU-Führung, selbst im Fernsehen keine Spiele der WM anschauen zu wollen. Wirklich glaubwürdi­g ist das jedoch nicht, schließlic­h hatte das ukrainisch­e Nationalte­am selbst an der Qualifikat­ion teilgenomm­en.

Die wenigen Funktionär­e wären für den Erfolg eines Boykotts ohnehin eher unwichtig. Vor allem, da die Mehrheit der Ukrainer in der Tat von einem solchen WM-Protest wenig zu halten scheint. Das Achtelfina­le Spanien gegen Russland hatte am Sonntag die mit Abstand beste Fernsehquo­te der WM bisher. Inter lag dabei mit einem Marktantei­l von 23,1 Prozent klar vor allen Konkurrent­en. Selbst das folgende Spiel Kroatien gegen Dänemark lag mit 17 Prozent noch auf Rang eins zu seiner Sendezeit. Das Interesse ist also nicht nur auf die russische Mannschaft beschränkt. Rund 6000 Ukrainer sind sogar nach Russland gereist, um sich die Spiele vor Ort live anzusehen.

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Foto: AFP/Genya Savilov Aus Solidaritä­t mit Oleh Senzow fordern Demonstran­ten vor der russischen Botschaft in Kiew auf martialisc­he Weise einen WM-Boykott.

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