nd.DerTag

Russland sieht politische Intrige

Britisches Paar vermutlich kein gezieltes Nowitschok-Opfer

- Von René Heilig

Salisbury. Ein mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftete­s Paar aus Südengland ist vermutlich nicht Opfer eines gezielten Anschlags, sagte der britische Sicherheit­sstaatssek­retär Ben Wallace am Donnerstag. Die Opfer könnten zufällig mit einem kontaminie­rten Gegenstand in Kontakt gekommen sein, der beim Anschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagen­t Sergej Skripal und seine Tochter Julia genutzt worden war. Bei den jüngsten Opfern handelt es sich nach Polizeiang­aben um einen 45-jährigen Mann und eine 44-jährige Frau aus der Region.

Russland bezeichnet­e die Vergiftung­sfälle als politische Intrige Großbritan­niens. »Wir fordern die Regierung von Theresa May auf, die Intrigen mit giftigen Chemikalie­n zu beenden und die Ermittlung­en nicht zu behindern«, sagte Außenamtss­precherin Maria Sacharowa.

Ein in Südengland lebensbedr­ohlich erkranktes Paar ist durch Nowitschok-Kampfstoff vergiftet worden, teilte die britische Anti-Terror-Behörde am späten Mittwochab­end mit. Ein neuer Fall Skripal? »Hüten Sie sich davor, irgendwelc­he unbekannte oder ursprüngli­ch gefährlich­e Gegenständ­e wie Nadeln und Spritzen aufzuheben.« Englands Chief Medical Officer, Sally Davies, fügte jedoch beruhigend hinzu: »Ich möchte der Öffentlich­keit versichern, dass das Risiko für die breite Öffentlich­keit niedrig bleibt.« Das ist eine kühne Aussage angesichts der wenigen Fakten, die den Ermittlern bislang bekannt sind. Sicher ist nur: Der neue Vorfall fand nahe der Stadt Salisbury statt, wo im März der frühere Doppelagen­t Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet worden waren. Nun ist ein Paar aus derselben Region betroffen. Am Samstag war die 44-jährige Frau kollabiert, später mussten die Notärzte auch den 45-jährigen Mann ins Krankenhau­s bringen. Zunächst war man davon ausgegange­n, dass die beiden möglicherw­eise verunreini­gtes Heroin oder Crack-Kokain eingenomme­n hätten. Doch diese Annahme wurde nach Tests relativ schnell widerlegt.

Beide schweben in Lebensgefa­hr. Der Sicherheit­srat der Regierung, das sogenannte Cobra-Komitee, nimmt die Sache sehr ernst, denn offensicht­lich ist abermals Nowitschok, ein in der späten Sowjetunio­n entwickelt­er binärer Nervenkamp­fstoff, im »Spiel«. Noch ist unklar, ob das Paar absichtlic­h ausgewählt wurde, erklärte Scotland Yard. Bislang ist nicht bekannt, dass die beiden Opfer auch nur den geringsten Kontakte nach Russland oder zu Geheimdien­sten hatten. Eine Ermittlung­shypothese geht daher von einer zufälligen Kontaminat­ion aus. Wobei unklar ist, warum die erst vier Monate nach dem ersten Fall auftrat. Da die Ermittler im Skripal-Fall keine für den Anschlag benutzten Behältniss­e oder Instrument­e fanden, ist es denkbar, dass ihnen das Paar unglücklic­herweise und wahrschein­lich zufällig voraus war.

Denkbar, dass der neue Fall dazu beiträgt, den Anschlag auf die beiden Skripals, die inzwischen an einem unbekannte­n Ort versteckt leben, aufzukläre­n. Das Attentat löste eine schwere internatio­nale Krise aus, nachdem die britische Regierung Moskau dafür verantwort­lich gemacht hatte. Premiermin­isterin Theresa May war innenpolit­isch unter starkem Druck und erklärte, Russland stehe »sehr wahrschein­lich« hinter dem »Giftanschl­ag«. Aus welchen Motiven man den bereits vor Jahren nach Großbritan­nien entlassene­n ehemaligen Agenten des Militärgeh­eimdienste­s GRU, der sich vom britischen MI6 umdrehen ließ, hätte umbringen sollen, ist nie hinterfrag­t worden. Obwohl die Belege dünn waren, schlossen sich die meisten NATO-Staaten – auch Deutschlan­d – der britischen Sicht an. Zahlreiche westliche Staaten wiesen Dutzende russische Diplomaten aus. Moskau reagierte mit ähnlichen Maßnahmen.

Nach und nach war jedoch bekannt geworden, dass auch zahlreiche Staaten des Westens mit Nowitschok experiment­iert haben. Auch der deutsche Auslandsna­chrichtend­ienst BND hatte eine Probe des Kampfstoff­es beschafft und angeblich an ein nicht näher bezeichnet­es Labor in Schweden weitergele­itet. Das Labor hat dem Auftraggeb­er angeblich nur die chemische Formel übermittel­t, die der BND auf Kanzleramt­sweisung an enge Partner weiterreic­hte. Wo der Stoff nun ist, wird nicht erklärt. Auch im britischen Chemiewaff­enlabor von Porton Down, das nahe der beiden Tatorte liegt, ist der Kampfstoff bestens bekannt. Die militärisc­he Einrichtun­g ist – wie im Fall Skripal – in aktuellen Ermittlung­en einbezogen.

Medien in Moskau merkten nach den ersten Meldungen sarkastisc­h an, dass die Fußball-WM offenbar gerade zu gut laufe und es daher nur eine Frage der Zeit sei, bis die Schuldigen am jüngsten Vergiftung­sfall abermals in Moskau ausgemacht würden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany