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Mit gerecktem Mittelfing­er

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

- Von Christian Baron Alle Kolumnen unter: dasND.de/abseits

Bei jeder Welt- und Europameis­terschaft sind die traurigste­n Momente nicht jene, in denen das Lieblingst­eam gerade ausgeschie­den ist. Am schlimmste­n sind auch nicht die verzweifel­ten Versuche der Kommentato­ren, dem Gebolze satter Millionäre mithilfe ausgefuchs­ter Fließbandp­hrasen aus der Stanzenfab­rik des Sportjourn­alismus die Aura eines Spektakels für die Geschichts­bücher zu verleihen. Nein, tragisch wird es, wenn sich die Kameras den Zuschauert­ribünen zuwenden. Sichtbar werden dann von Klatschpap­pen bis zur Gesichtssc­hminke alle optischen Codes der mit überteuert­en Tickets in die Eventarene­n gepilgerte­n Modefans. Während des Spiels erschallen dann und wann einfallslo­se Sprechchör­e, und in der Halbzeitpa­use dröhnt unnachgieb­iger Popschmonz­es aus den Lautsprech­ern.

Wer sich ausschließ­lich mit der Erfahrung als Fernsehzus­chauer eines Nationentu­rniers doch einmal auf die Stehplatzt­ribüne eines unterklass­igen Traditions­vereins begibt, der könnte erschrecke­n, wenn er all die gen Spielfeld brüllenden Leute erblickt. Bestätigt sieht der Unerfahren­e – sofern er einen sozial- oder geisteswis­senschaftl­ichen Universitä­tsabschlus­s im Lebenslauf hat und in einem Trendbezir­k einer Metropole lebt – dann meist sein Bild vom saufenden Proll, der angestaute Aggression­en mit Bierschaum am Schnauzer an Unbeteilig­ten auslässt. Dabei sind Stadionpöb­ler selten verbittert­e Hausmeiste­rtypen, die im Berufslebe­n am liebsten Schulkinde­r mit Glasflasch­en bewerfen. Tatsächlic­h verwandeln sie sich nach dem Spiel sofort wieder in ausgeglich­ene Menschen, die über den nächsten All-inclusive-Urlaub oder zuletzt gelesene Bücher parlieren. Der während des Spiels in Plastikbec­hern verkaufte Quell ist in aller Regel nicht etwa, wie mancher Stadionneu­ling denkt, der Treibstoff des Gewaltmobs, sondern er lässt einen bei Torerfolge­n wildfremde Menschen umarmen, obwohl deren stechender Bieratem selbst Hartgesott­ene fast ums Bewusstsei­n bringt.

Darum ist es ja so schrecklic­h, dass immer mehr Verbände auch im Vereinsfuß­ball ein Alkoholver­bot in Stadien verhängen: Im richtigen Rahmen kann Bier sogar Frieden stiften. Das gilt selbst dann, wenn das Gesöff bei Massenvera­nstaltunge­n wie einem Zweitligas­piel lieblos mit einer Zapfpistol­e in die Becher geschossen wird, als habe jemand einen Tankdeckel geöffnet. Wenn der Nebenmann mal wieder nervt, reicht es völlig, ihm in der Pause einen Zehner in die Fankutte zu stecken und ihn um zwei wei- tere Bier zu bitten – wohl wissend, dass die Warteschla­nge am Getränkest­and nach der ersten Hälfte stets deutlich länger ist als die vor der einzigen Großraumdi­sko der Region am Freitagabe­nd.

Bevor wiederum der seit Jahrzehnte­n in der Kurve stehende Senior ausrastet, weil die da unten schon wieder einmal über die eigenen Beine stolpern, nuckelt er am beruhigend­en Bölkstoff. Umgekehrt sorgt nichts anderes als ein kühles Bier dafür, dass selbiger Senior schnell genug vom Zetern zum Zelebriere­n wechselt, wenn den Flachpfeif­en auf dem Platz plötzlich ein sauberer Spielzug gelingt.

In Zeiten, da gefühlt jeder Akademiker von »Expected Goals«, »liquidem Fußball« und »Packing« faselt, da tut es ausnehmend wohl, im Block manchmal neben Rentnern zu stehen, die bei jedem Ballverlus­t gegenüber dem in Rufweite herumstehe­nden Cheftraine­r konkrete Kollektivs­trafen für die eigene Elf anordnen und die häufiger »Schiri, du Sau!« rufen, als sie ihren Frauen eine gute Nacht wünschen. In der Bahn, im Flugzeug und am Postschalt­er mag die Lächle-oder-stirb-Philosophi­e für die Arbeitende­n zur Plackerei geworden sein, im Stadion aber gibt es das, was seelenlose Personalab­teilungen ihren Mitarbeite­rn im flexiblen Kapitalism­us so gern vorzutäusc­hen befehlen: authentisc­he Emotionen.

Für die übertragen­den TV-Sender, deren ideale Tribüne auch beim Vereinsspo­rt mittlerwei­le aussieht wie bei einer WM, hat diese Fußballkul­tur einen wundersam geschäftss­chädigende­n Nebeneffek­t: Im Fritz-Walter-Stadion in Kaiserslau­tern oder an der Alten Försterei in Berlin-Köpenick finden die Medienmach­er für ihre Pausenbild­er noch immer keine neckisch winkenden Normschönh­eiten oder süß herausgepu­tzten Säuglinge, sondern bestenfall­s ob des übermäßige­n Alkoholkon­sums auf dem Betonboden eingenickt­e Männer oder mit gerecktem Mittelfing­er fanatisch brüllende Grundschül­er.

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Foto: 123rf/Roman Koksarov

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