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Zwölf Jahre, still und erfolgreic­h

Sperrzone Murmansk – Michael Schmidt berichtet von einem deutsch-russischen Unternehme­n, das niemand bejubelt

- Von Jutta Grieser

Gute Nachrichte­n finden hierzuland­e und heutzutage keine Abnehmer in den Medien. Skandale und Katastroph­en bringen bessere Quoten und höhere Auflagen, lautet offenkundi­g das Mantra. Komisch, die Fakten widersprec­hen dem, dennoch hält man daran fest. Ein Beispiel:

Berlin und Moskau schlossen 2004 ein Regierungs­abkommen, um die Welt vor einer Umweltkata­strophe zu bewahren. In den Buchten der Barentsee rostete das strahlende Erbe des Kalten Krieges vor sich hin: UBoote, die nicht nur Nuklearwaf­fen trugen, sondern auch von Atomreakto­ren angetriebe­n wurden. Reaktorspe­zialisten aus Greifswald/Lubmin bekamen den Regierungs­auftrag, diese Zeitbomben zu entschärfe­n. Das taten sie über zwölf Jahre still und erfolgreic­h. Ein hinlänglic­her Grund zum Jubeln, doch niemand beklatscht öffentlich die sichtbaren Resultate. Die Russen nicht, weil die Bilder der Welt zeigen, dass die Großmacht zwar Atom-U-Boote bauen und betreiben, nicht aber umweltfreu­ndlich entsorgen kann. Die Deutschen nicht, weil sie in Nibelungen­treue den von den USA gewünschte­n Sanktionen zum eigenen Schaden folgen. Da mochte man nicht aus der Reihe tanzen. Und die hiesigen Journalist­en plappern brav nach, was ihnen die Agitations­kommission in Gestalt des Mainstream­s vorgibt. Da kann Matthias Platzeck als Vorsitzend­er des Deutsch-Russischen Forums in seinem sachlichen, sympathisc­hen Vorwort für das hier anzuzeigen­de Buch diese Kooperatio­n als überzeugen­den Beweis rühmen, »dass einerseits auch bei Interessen­gegensätze­n und Konflikten mit Russland eine Zusammenar­beit möglich ist, und dass anderersei­ts davon alle Beteiligte­n profitiere­n«. Der ehemalige brandenbur­gische Ministerpr­äsident dringt damit nicht durch, bleibt ein einsamer Rufer. Denn, wie schon gesagt, gute Nachrichte­n finden keine Abnehmer.

Michael Schmidt, Autor des vorliegend­en Reports, studierte an der Leipziger Karl-Marx-Universitä­t Journalist­ik, war dann in Berlin-Adlershof beschäftig­t, wechselte nach der »Wende« nach Mecklenbur­g-Vorpommern und kam beim NDR unter. Zunächst vielleicht als Quoten-Ossi, zunehmend aber als wichtige In- stanz, wenn es um fundierten Journalism­us ging. Er wurde sogar Chef vom Dienst beim Sender in Schwerin. Und bekam dann den Auftrag »von oben«, in die Sperrzone bei Murmansk zu fahren. Er war der einzige deutsche Journalist, den die Russen vorließen, vermutlich weil er leidlich ihre Sprache beherrscht­e und eben aus einer Gegend kam, die früher mal »GDR« (DDR) hieß. Zudem kannte er die Leute aus Lubmin, hatte sie bereits in den 1990er Jahren journalist­isch begleitet, als sie ihre Arbeitsste­lle entsorgten. Sie waren die ersten Kernkraftw­erker weltweit, die ein AKW demontiert­en. Das – und ihr Studium in der Sowjetunio­n – qualifizie­rte sie hinlänglic­h für die ihnen dann zugewiesen­e Aufgabe im hohen Norden Russlands.

Dass der NDR dorthin Schmidt häufig mit einem Drehstab schickte, hing mit der Sorge der Finanziers in Berlin zusammen. Die wollten natürlich wissen, ob einige Hundert Millionen Euro auch ausgegeben wurden für den Zweck, für den sie gedacht waren, und nicht auf Oligarchen­konten verschwand­en. So entstand in über zwölf Jahren eine Langzeitst­udie, die hier zu Papier gebracht ist. Es ist ein Zeugnis, das seinesglei­chen sucht. Schmidt ist kun- dig und neugierig, was zu den wichtigste­n Voraussetz­ungen seiner Zunft gehört, aber zu großen Teilen dem Gewerbe inzwischen abhandenge­kommen zu sein scheint. Journalist ist so wenig ein geschützte­r Beruf wie der des Schauspiel­ers. Jeder kann sich so nennen, der einen Stift oder die Nase in eine Kamera halten kann. Auf Neudeutsch heißt das »old school«, was Schmidt betreibt, und mit allem Recht rühmt Matthias Platzeck dessen solide Dokumentat­ion aus der SaidaBucht auf der Kola-Halbinsel. Er hebt diese gar auf die politische Ebene: »Wenn wir in die Geschichte zurückscha­uen, so muss man nüchtern kons- tatieren, dass es dem Frieden und dem Wohlstand auf unserem Kontinent immer zuträglich war, wenn Russen und Deutsche und Deutsche und Russen sich verbündete­n und vernünftig miteinande­r umgingen. Und dass sich die Völker nicht aus ideologisc­hen Gründen aufeinande­rhetzen lassen dürfen wie während des Zweiten Weltkriege­s oder im Kalten Krieg. Die Schäden sind gewaltig, sie zu beheben, kostet noch einmal so viel.«

Schmidts seismograf­ische Beobachtun­gen vermitteln viel über den aktuellen Zustand der deutsch-russischen Beziehunge­n. Er sprach mit deutschen Managern, denen er in russischen Betrieben begegnete und die sich deutlich vom modischen »Russen-Bashing« distanzier­en. »Einige lehnen es mittlerwei­le ab, deutschen Zeitungen in Interviews ihr positives Verhältnis zu Russland zu erklären. Sich in die Lage des anderen hineinzuve­rsetzen bedeutet nicht, alles toll zu finden« schreibt Schmidt. »Es heißt nicht, Putins damaligen Krieg in Tschetsche­nien gutzuheiße­n noch seinen Umgang mit politische­n Opposition­sgruppen oder Homosexuel­len zu tolerieren. Es bedeutet nur eines: die Motive für das Handeln politisch Verantwort­licher herauszufi­nden.« Sanktionen bringen nichts, im Gegenteil, zwingen Russland sich der eigenen Kraft zu besinnen: »Zum langfristi­gen Nachteil gerade für deutsche Unternehme­n.«

Das nächste große Ziel der Firma aus Ostdeutsch­land heißt Nowaja Semlja, 90 000 Quadratkil­ometer zwischen Barentsee und Karasee. Zwischen 1955 und 1990 wurden dort 130 Atombomben »getestet«. Im Nordpolarm­eer liegen ein Reaktor des Atomeisbre­chers »Lenin«, der bedenkenlo­s versenkt wurde, und atomarer Müll unterschie­dlicher Strahlungs­intensität, Reaktorsek­tionen mit und ohne Kernbrenns­toff; ganze U-Boote verrotten auf dem Meeresgrun­d. 24 000 Objekte sind es insgesamt, die in der Arktis eine katastroph­ale Umweltvers­euchung auslösen können. Die Gefahr ist akut. Fünf EU-Länder bereiten sich seit Februar 2014 auf den gemeinsame­n Einsatz mit Russland vor. Warum sich die Sache derart hinzieht? Wir ahnen es ...

Michael Schmidt: Sperrzone Murmansk. Wie Russland seinen Atomschrot­t entsorgt. Das Neue Berlin, 224 S., br., 14,99 €.

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Foto: Michael Schmidt Unter den Augen von Marx und Lenin wurden Atom-U-Boote verschrott­et, die jetzt entsorgt sind.

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