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Denker und Kämpfer

- Von Sabine Kebir

Dem

bis zur Emeritieru­ng in Urbino Philosophi­e lehrenden Domenico Losurdo (1941 – 2018) verdanke ich meinen Zugang zu Hegel. Er erklärte ihn nicht von seinen Abstraktio­nen her, sondern leitete diese von seinen konkreten sozialökon­omischen Positionen ab. Plötzlich war Hegel kein Idealist mehr und der Abstand zwischen ihm und Marx wurde kleiner. Auch Losurdos Buch über Nietzsche hat wie seine anderen Forschunge­n Verbreitun­g in vielen Sprachen der Welt gefunden.

Kein Denker der Gegenwart hat sich wohl tiefgründi­ger mit den Ideologeme­n auseinande­rgesetzt, die die seit dem Zusammenbr­uch des europäisch­en Staatssozi­alismus in Fahrt gekommene Restaurati­on hervorgebr­acht hat. Davon erfasst, behauptete er, sei auch die verblieben­e Restlinke. Gegen den nach wie vor virulenten Imperialis­mus und seine Kriege kämpfe sie kaum noch, bestenfall­s gegen den Neoliberal­ismus, und auch das nicht konsequent genug. Zu viele Linke stünden der herrschend­en Utopie der Europäisch­en Union nahe, ohne zu sehen, dass sie sich aus der jetzigen kapitalges­teuerten Verfassthe­it nicht zu einer sozialen Union entwickeln wird, zumal dafür jede zivilgesel­lschaftlic­he Voraussetz­ung fehlt. Deshalb polemisier­te er gegen die leichtfert­ige Aufgabe des Rechtsrahm­ens der Nationen, die die Linke um jenen Teil ihrer Anhängersc­haft gebracht hat, der sich jetzt dem rechtsex-tremen Lager zuwendet.

Immer wieder widmete er sich dem »Kampf um die Geschichte« – wie eins seiner Bücher heißt, in dem er daran erinnerte, dass der Freiheitsb­egriff der amerikanis­chen Verfassung in einer Gesellscha­ft wurzelt, die die Sklaverei für selbstvers­tändlich hielt und die heute die Unterwerfu­ng der ganzen Welt für selbstvers­tändlich hält. Er forderte auch dazu auf, die Interpreta­tion der Geschichte des Staatssozi­alismus nicht den Mainstream-Ideologen zu überlassen, sondern ihre historisch­e Bedeutung im unabgeschl­ossenen Emanzipati­onskampf der Arbeiter, der Frauen und der kolonisier­ten Völker als Erbe zu verstehen. Aber sein in dieser Perspektiv­e verfasstes, keineswegs apologetis­ches Buch über Stalin handelte sich viel Kritik von Linken ein. Festzuhalt­en ist, dass Losurdo den ebenfalls mit fatalen Fehlern gepflaster­ten Weg Chinas letztlich doch für lehrhafter hielt als den der Sowjetunio­n. Bedeutende­r als Mao war für ihn Deng Xiao Ping: Kein Führer eines Landes habe mehr Menschen aus der Armut befreit.

Domenico Losurdo war Präsident der Internatio­nalen Gesellscha­ft Hegel-Marx für dialektisc­hes Denken. Am 28. Juni ist er gestorben.

Von Domenico Losurdo erschienen bei PapyRossa sechs Bücher, darunter »Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende«, »Von Hegel zu Hitler?«, »Der Klassenkam­pf oder Die Wiederkehr des Verdrängte­n?«, »Dialektisc­h denken« und »Wenn die Linke fehlt«; im Frühjahr 2019 folgen im Kölner Verlag zwei weitere neue Titel: »Der westliche Marxismus« und »Eine Welt ohne Kriege«.

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Domenico Losurdo Foto: Vito Panic

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