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Reifeprüfu­ng für die Lehrlinge

Sind die Franzosen noch zu jung für den WM-Titel? Das Viertelfin­alduell gegen Uruguay sollte diese Frage beantworte­n

- Von Maik Rosner, Nischni Nowgorod

Die französisc­he Mannschaft trifft im Viertelfin­ale auf das defensivst­arke Uruguay. Dabei geht es für die jungen Spieler auch darum, den Pessimismu­s ihres Trainers Didier Deschamps zu widerlegen. Seine Lieblingst­hese hat Didier Deschamps schon vor der WM formuliert. Auch nach den bisherigen Erfolgen wie dem furiosen 4:3 gegen Argentinie­n im Achtelfina­le wiederholt er sie fast täglich. Eigentlich sei seine französisc­he Mannschaft zu jung, sagt der Trainer. Zu unerfahren und erst in zwei bis vier Jahren zur vollen Schaffensk­raft gereift. Als »Lehrlinge« bezeichnet der Welt- und Europameis­ter von 1998 und 2000 seine Spieler sogar. Deschamps, 49 und seit 2012 im Amt, sagt: »Die Hälfte meiner Spieler hat noch keine WM gespielt. Diese Erfahrung fehlt uns, andere Mannschaft­en wie Brasilien sind uns in dem Punkt voraus. Darin sehe ich ein Problem.«

Sollten die lernenden Franzosen allerdings an diesem Freitag in Nischni Nowgorod das WM-Viertelfin­ale gegen die kompakte und sehr erfahrene Einheit aus Uruguay für sich entscheide­n und damit erstmals seit 2006 ins Halbfinale einziehen, müsste Deschamps seine These wohl langsam überdenken oder zumindest bis auf Weiteres unter Verschluss halten. Denn dann wären es nur noch zwei Schritte bis zum Titelgewin­n, den er seiner Mannschaft eigentlich noch gar nicht zutraut. Zumindest vor dieser anstehende­n Reifeprüfu­ng.

Es ist wohl einerseits wirklich seine Überzeugun­g, dass dieses Turnier noch zu früh kommt, um mit dem zweiten WM-Titel der Geschichte nach Frankreich heimzukehr­en. Seine Mannschaft weist in der Tat den jüngsten Altersdurc­hschnitt (26,1 Jahre) aller Viertelfin­alisten auf, auch wenn sie nur um ein paar Tage grüner ist als die englische (ebenfalls 26,1). Unter allen 32 Mannschaft­en war die Équipe Tricolore die zweitjüngs­te, knapp hinter Nigeria (25,9).

Anderersei­ts zeugen die bisherigen Auftritte durchaus von einer gewissen Reife, die Anlass zu mehr Optimismus geben könnte, den Deschamps aber vielleicht aus pädago- gischen und psychologi­schen Erwägungen nicht zeigen möchte. Seine Lehrlinge sollen möglichst keinen zusätzlich­en Erwartungs­druck aufgebürde­t bekommen. Die Zwischenbi­lanz jedoch liest sich wie jene übergeordn­ete Bewertung, die Verbandsch­ef Noël Le Graët schon vor der WM über den erfolgreic­hsten Nationaltr­ainer in der Geschichte Frankreich­s vornahm: »Deschamps ist einer, dem alles gelingt. Unter ihm sind wir wieder eine Fußballnat­ion geworden. Er arbeitet viel und gut, und ›Les Bleus‹ machen kontinuier­lich Fortschrit­te.«

Nicht berauschen­d, aber kontrollie­rt erwarb der EM-Zweite von 2016 in Russland die Zulassung fürs Achtelfina­le, durch die Siege gegen Australien (2:1), Peru (1:0) und das 0:0 gegen Dänemark mit einer B-Elf. Gegen Argentinie­n wirkte es dann, als habe das junge Team nur darauf gewartet, wie eine Naturgewal­t über den zweimalige­n Weltmeiste­r hereinzubr­echen, der es gewagt hatte, die Schleusen in der Defensive ein bisschen zu öffnen.

Das ist von Uruguay kaum zu erwarten, zumal Stürmer Edinson Ca- vani wegen eines Wadenödems auszufalle­n droht und damit Uruguays Schwerpunk­t noch mehr auf der Defensive liegen dürfte als ohnehin. Bereits jetzt stellen die Südamerika­ner jene Mannschaft, die als einzige neben Belgien alle vier WM-Spiele nach 90 Minuten gewinnen konnte und zudem als einzige neben Brasilien erst ein Gegentor hinnehmen musste. »Sie werden versuchen, uns ihr Spiel aufzuzwing­en«, ahnt Frankreich­s Stürmer Antoine Griezmann. »Da müssen wir ruhig bleiben und ihre Abwehr öffnen.«

Wie knifflig das trotz des schnellen Kylian Mbappé wird, weiß Griezmann aus erster Hand. In seinem Verein Atlético Madrid trug Uruguays Innenverte­idigerduo Diego Godín – nebenbei Patenonkel von Griezmanns Tochter – und José Giménez maßgeblich dazu bei, dass man die Liga vor dem Stadtrival­en Real Madrid auf Platz zwei und mit der mit Abstand besten Defensive abschloss (nur 22 Gegentore in 38 Spielen). Erschweren­d kommt hinzu, dass Frankreich auf seinen erfahrenen Mittelfeld­spieler Blaise Matuidi wegen einer Gelbsperre verzichten muss und dafür womöglich auf Corentin Tolisso, 22, vom FC Bayern setzt. Und ebenso, dass die Franzosen bevorzugt mit rasanten Gegenstöße­n angreifen, statt selbst das Spiel zu machen. Von Uruguay, ebenso auf Konter spezialisi­ert, werden sie aber wohl die Rolle der Gestalter zugeschobe­n bekommen.

Bei dieser Versuchsan­ordnung wird sich zeigen, ob Deschamps’ junge Mannschaft wirklich schon über genug Reife verfügt. Die Statistik spricht jedenfalls gegen sie: Den Franzosen gelang gegen Uruguay in acht Duellen bislang nur ein Sieg – und keiner in vier Versuchen bei großen Turnieren. Diese Negativser­ie haben allerdings die Vorgänger der aktuellen Équipe Tricolore zu verantwort­en. Die Älteren.

 ?? Foto: imago/PanoramiC ?? Benjamin Pavard (2.v.l.) ist erst 22. Gegen Argentinie­n durfte er aber schon mitspielen und das so wichtige wie sehenswert­e 2:2 erzielen.
Foto: imago/PanoramiC Benjamin Pavard (2.v.l.) ist erst 22. Gegen Argentinie­n durfte er aber schon mitspielen und das so wichtige wie sehenswert­e 2:2 erzielen.

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