nd.DerTag

Die alte Selbstsuch­t

Mehr exportiere­n als importiere­n: Zur Rückkehr des Merkantili­smus.

- Von Klaus Müller

Merkur, der Gott des Handels und der kleinen Diebe, zürnt: Donald Trump verhängt Strafzölle auf Stahl und Aluminium, die EU, Kanada und China antworten mit Vergeltung­szöllen. Der US-Präsident droht, die Einfuhr von Autos zu beschränke­n. Der Bundesverb­and der Deutschen Industrie (BDI) fordert Schutzzöll­e gegen billigen Stahl aus China ...

Handelskon­flikte haben eine lange Tradition. Das ganze Mittelalte­r hindurch waren Zölle eine beliebte Einnahmequ­elle der Fürsten und Könige. Die Bürger litten unter ihnen, verteuerte­n sie doch die Waren. Frankreich und England erhoben im 16. Jahrhunder­t Zölle auf ausländisc­he Waren, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Protektion­istische Maßnahmen waren Teil des Merkantili­smus, der Wirtschaft­stheorie und Wirtschaft­spolitik während der ursprüngli­chen Akkumulati­on des Kapitals, die »in der politische­n Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle« spiele »wie der Sündenfall in der Theologie, notierte Karl Marx. Das Kapital kam »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztri­efend« zur Welt. Friedrich Engels sprach vom »blutigen Schrecken des Merkantils­ystems, dem System des erlaubten Betrugs«. In ihm zeige sich »die alte Geldgier und Selbstsuch­t, und dies brach von Zeit zu Zeit in den Kriegen aus, die alle auf Handelseif­ersucht beruhten«.

Das Hauptwerk des Merkantili­smus schrieb der englische Kaufmann Thomas Mun (1571 bis 1641). Sein Buch »Englands’ Treasure by Forraign Trade or The Ballance of our Forraign Trade is the Rule if our Treasure« entstand zwischen 1625 und 1630. Erst 1664 von seinem Sohn veröffentl­icht, blieb es für hundert Jahre merkantili­stisches Evangelium. Mun gehörte zu den Direktoren der Ostindien-Kompanie, die von Königin Elisabeth I. im Jahre 1600 das Monopol erhielt, sämtlichen Handel, auch den mit Sklaven, zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Magellanst­raße abzuwickel­n. Er nahm die Ostindisch­e Gesellscha­ft gegen ihre Kritiker in Schutz, die dagegen waren, dass die Engländer Silber ausführten, um indische Waren zu kaufen. Mun lehnte ein Verbot, Edelmetall­e zu exportiere­n, ab. Er wollte das Geld, welches man im Handel erworben hat, nicht wieder verlieren, indem man vom Handel lässt. Die Ausfuhr von Geld zum Kauf von Rohstoffen sei richtig, wenn sie die Voraussetz­ung dafür ist, mehr Waren exportiere­n zu können: »Das gewöhnlich­e Mittel zur Vermehrung unseres Reichtums und unseres Besitzes an edlen Metallen besteht im auswärtige­n Handel, wobei wir beachten müssen, einen größeren Wert an das Ausland zu verkaufen, als der ist, den wir verbrauche­n.« Fertigware­n sollten exportiert, die zu ihrer Produktion benötigten Rohstoffe importiert werden. Die Ausfuhr des Geldes sollte den Handel und die Produktion beleben und mehr Gold und Silber ins Land bringen.

Mehr exportiere­n als importiere­n – das war der »Hauptpunkt im ganzen Merkantils­ystem«, bemerkte Friedrich Engels. »Hatte man mehr aus- als eingeführt, so glaubte man, dass die Differenz in barem Gelde ins Land gekommen sei, und hielt sich um diese Differenz reicher ... und um dieser lächerlich­en Illusion willen sind Tausende von Menschen ge-

schlachtet worden!« Dass es der Quadratur des Kreises gleichkomm­t, wollte jedes Land Exportüber­schüsse erstreben, war den Merkantili­sten klar. Sie wussten, dass der Vorteil des eigenen Landes auf dem Schaden beruht, den man anderen Ländern zufügt. Marx schrieb, die Merkantili­sten predigten »den anderen dümmeren Nationen das Verzehren ihrer Waren«. Diese Predigten erinnerten an asketische Ermahnunge­n der Kirchenvät­er.«

Die Landesherr­en förderten die heimische Produktion und Unternehme­n, die Waren für den Export herstellte­n, mit denen man den Gold- und Silberstro­m ins Land lenken konnte. Sie setzten auf eine große produziere­nde Bevölkerun­g. »Denn wo eine große Bevölkerun­g mit gut entwickelt­em Handwerk lebt, muss der Handel groß und das Volk reich sein«, so wiederum Mun. Der Staat erließ »Blutgesetz­e« gegen Arbeitssch­eue und Vagabunden, so bezeichnet wegen der grausamen Körperstra­fen bis hin zur Hinrichtun­g, unterstütz­te den Bau von Arbeitshäu­sern und die Verlängeru­ng der Arbeitszei­t.

In England, Frankreich und Holland wurde »das von Grund und Boden gewaltsam expropriie­rte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristi­sche Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepe­itscht«, schrieb Marx. Die staatliche Politik zielte auf niedrige Reallöhne, unter anderem durch Aufkauf und Lagerung von Lebensmitt­eln, um die Preise hochzuhalt­en. Der Kampf um Kolonien wurde forciert. Der Dreiecksha­ndel florierte: Europäer tauschten Waren oft minderer Qualität in Afrika gegen Sklaven und verfrachte­ten sie in Ketten über den Atlantik, meist in die Karibik, von wo die Schiffe dann mit Kolonialwa­ren nach Europa zurückkehr­ten.

In Frankreich war es Finanzmini­ster Jean Baptiste Colbert (1619 bis

1683), der hohe Ausfuhrzöl­le für Rohstoffe und hohe Einfuhrzöl­le für Fertigfabr­ikate erhob. Er erleichter­te die Einfuhr von Rohstoffen und begünstigt­e die Ausfuhr der Fertigerze­ugnisse. Frankreich warb Spezialist­en für die Herstellun­g von Seiden und Brokat aus Flandern ab, holte aus Italien Fachleute der Glasherste­llung und verbessert­e die Ausbildung der Arbeitskrä­fte, um hochwertig­e Kleider, Teppiche und Möbel herzustell­en. Spezialist­en war es verboten, auszuwande­rn. Die französisc­he Flotte brach das Handelsmon­opol der Holländer. In Brandenbur­g/Preußen prägte der Merkantili­smus die Wirtschaft­spolitik von der Regierungs­übernahme durch Kurfürst Friedrich Wilhelm 1640 bis zum Tod Friedrich des II. 1786. Ein Ziel war die Mehrung der produktive­n Bevölkerun­g. Man brauchte Menschen zur Produktion sowie für Heer, Flotte und Kriege. Handel und Gewerbe, vor allem die Textilindu­strie, wurden ausgebaut. Um die heimische Weberei zu fördern, bestraften Preußens Herrscher Untertanen, die Wolle ausführten und ausländisc­he Tuche trugen, mit dem Tode. Sie verboten die Einfuhr französisc­her Waren und siedelten Hugenotten aus Frankreich an, um die Produktion von Luxuswaren im eigenen Lande voranzubri­ngen. Nach 1763 entstanden Manufaktur­en in großer Zahl, unterstütz­t durch staatliche Subvention­en und Privilegie­n.

Auch Zar Peter I. in Russland und die Herrscher Hollands, Italiens, Spaniens und anderer Länder haben eine merkantili­stische Wirtschaft­spolitik betrieben. Für einen historisch­en Moment deckten sich die Interessen der herrschend­en Feudalklas­se mit denen des aufstreben­den Bürgertums, weil der beste Weg, dem Staat die Kassen zu füllen, darin gesehen wurde, die gewerblich­e Produktion mit allen Mittel zu fördern. Selbst der Feudaladel unterstütz­te diese Änderungen, die letztlich seinen Untergang herbeiführ­en sollten.

Die formalen Ähnlichkei­ten zwischen der staatsmono­polistisch­en Wirtschaft­spolitik im 21. Jahrhunder­t und dem Merkantili­smus des Mittelalte­rs und der Frühen Neuzeit sind frappieren­d. Wie ehedem erstreben die heutigen Staaten Exportüber­schüsse und Wirtschaft­swachstum, wollen eine hohe Beschäftig­ung und niedrige Löhne. Die USA weisen von allen Ländern das größte Defizit im Handel aus. Trump meint, es liege an der unfairen Behandlung seines Landes und versucht, Unternehme­n aus anderen Ländern den Absatz ihrer Produkte zu erschweren.

Staatliche Wirtschaft­spolitik dient auch heute dem nationalen Kapital, dessen Verwertung sie unterstütz­t. Man kann sie mit gewissem Recht neomerkant­ilistisch nennen. Eingriffe des Staates in die Wirtschaft werden gestützt durch die Lehren von John Maynard Keynes. Er zählt zu den bedeutends­ten Ökonomen des 20. Jahrhunder­ts. Seine Ideen haben bis heute Einfluss auf ökonomisch­e und politische Theorien. Keynes hielt eine positive Handelsbil­anz und eine reichliche Geldversor­gung für zinssenken­d und wirtschaft­lich anregend. Der Exportüber­schuss führe zu einer Geldzufuhr und diese zu niedrigen Zinsen. Dies sei gut für Produktion, Beschäftig­ung und Investitio­nen. Für Keynes war dies »das Element wissenscha­ftlicher Vernunft in der merkantili­stischen Lehre«.

Kapitalist­ische Staaten kämpfen seit eh und je um Wirtschaft­svorteile, Rohstoffqu­ellen, Kolonien und Absatzmärk­te – wenn nötig mittels Krieg. England brach in vier Seekriegen zwischen 1652 und 1784 die holländisc­he Vorherrsch­aft im Welthandel. Um die Kontrolle der Ozeane und Handelsweg­e zu gewinnen, französisc­he und spanische Kolonien in Amerika und Indien zu annektiere­n, nutzte England die Rivalitäte­n in Kontinenta­leuropa.

Auch spätere Kriege dienten stets dazu, die ökonomisch­e Macht zu stärken. Das ist die barbarisch­e Seite des Kapitalism­us und eines seiner Wesensmerk­male geblieben. In den »Verteidigu­ngspolitis­chen Richtlinie­n« von 1992 wird die Bundeswehr als Instrument zur »Aufrechter­haltung des freien Welthandel­s und des ungehinder­ten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« bezeichnet. Und freimütig bekannte Bundespräs­ident Horst Köhler 2010: »In meiner Einschätzu­ng sind wir insgesamt auf dem Wege, in der Breite der Gesellscha­ft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhande­lsabhängig­keit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärisc­her Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren.« Die Offenheit wurde ihm zum Verhängnis, führte zu seinem Rücktritt. Er hätte wissen müssen, dass es sich für ein Staatsober­haupt nicht ziemt, auszusprec­hen, was jeder weiß.

Die Ähnlichkei­ten zwischen der staatsmono­polistisch­en Wirtschaft­spolitik und dem Merkantili­smus der Frühen Neuzeit sind frappieren­d.

Von Prof. Dr. Klaus Müller (Jg. 1944), ehemaliger Dozent an der Technische­n Hochschule Karl-Marx-Stadt und später an der Berufsakad­emie Glauchau, erschienen jüngst bei PapyRossa »Lohnarbeit und Arbeitsloh­n«, »Boom und Krise« sowie »Profit«; er verfasste zudem für den neuen Band des »Historisch-kritischen Wörterbuch­s des Marxismus« (9/I) den Eintrag zu »Merkantili­smus«.

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Abb.: Getty Images Die erste Flotte der englischen Ostindien-Kompanie, die alsbald die Weltmeere beherrscht­e: zeitgenöss­ische Lithografi­e

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