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Inflations­alltag

Massive Geldentwer­tung macht Venezuela zu schaffen.

- Von Andreas Knobloch, Caracas * Name geändert

Ein Ende der wirtschaft­lichen und sozialen Krise in Venezuela ist nicht absehbar. Geschätzt drei Viertel der venezolani­schen Bevölkerun­g leben vom Mindestloh­n, der durch die Hyperinfla­tion entwertet wird.

Mauricio Mora kramt sein altes Tastenhand­y hevor. Es ist kaum größer als eine Checkkarte, das Display ist zerkratzt und kaum zu erkennen. Viel schlimmer aber: Es ist nicht internetta­uglich – und gefährdet damit seine Geschäftsg­rundlage. »Die wenigsten Kunden können heute noch in bar bezahlen«, sagt er. Früher hat der 51-Jährige als Taxifahrer sein Geld verdient; heute befördert er nur noch gelegentli­ch Fahrgäste durch Venezuelas Hauptstadt Caracas. Da er auch kein Kartenlese­gerät besitzt, müssen seine Kunden ihm das Fahrgeld überweisen – auf das Konto seiner Tochter, wie er erklärt. Die besitzt ein Smartphone und kann Geldeingän­ge sofort registrier­en. Erst wenn sie das OK gibt, fährt er los. »Sofortüber­weisungen gehen aber nur, wenn man bei derselben Bank ist, ansonsten dauert es einen Tag, bis das Geld da ist«, sagt Mora. Man ahnt, dass dies vielen Kunden zu umständlic­h ist. Mora selbst auch. Aber für ein neues Smartphone hat er kein Geld.

Die rasante Geldentwer­tung in Venezuela hat Bargeld im »Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­t« knapp werden lassen. Zumindest in der Hauptstadt Caracas sind Münzen und Scheine seit Anfang des Jahres praktisch verschwund­en. Was in einigen Ländern Europas als Vision für die Zukunft diskutiert wird – die Abschaffun­g des Bargeldes – ist in Venezuela wider Willen derzeit Realität.

Venezuelas Staatsvers­chuldung und Sozialprog­ramme wurden jahrelang mit der Notenpress­e finanziert. Als der Ölpreis und damit die Einnahmen sanken, eskalierte die Situation. Es herrscht Hyperinfla­tion. Der Internatio­nale Währungsfo­nds spricht von »einer der größten wirtschaft­lichen Zusammenbr­üche der vergangene­n 50 Jahre« und prognostiz­iert für 2018 eine Teuerungsr­ate von 14 000 Prozent. Andere Experten werfen gar sechstelli­ge Prozentzah­len in die Runde. Der Mindestloh­n, gerade erst zum wiederholt­en Male erhöht, liegt bei 1 Million Bolívares und zusätzlich 1,55 Millionen Bolívares als Lebensmitt­elbonus pro Monat. Dafür bekommt man gerade einmal eine Büchse Thunfisch und ein Kilo Hühnchen, allerdings theoretisc­h auch mehrere (!) Tanklaster voller Benzin. Selbst wenn die in Aussicht gestellte erneute Verdreifac­hung des Mindestloh­ns auf drei Millionen Bolívares plus Lebensmitt­elbonus umgesetzt würde, entspräche dies nach aktuellem Schwarzmar­ktkurs nur noch knapp 1,5 US-Dollar.

Geschätzt drei Viertel der venezolani­schen Bevölkerun­g leben vom Mindestloh­n. Auch Mauricio Mora hat nicht viel mehr. »Taxifahren bringt es nicht mehr«, sagt er. Eine halbe Million Bolívares, weniger als einen USDollar, verdient er an einer Fahrt. »Für einen neuen Reifen muss ich 100 US-Dollar hinblätter­n«, rechnet Mora vor. Überhaupt seien Ersatzteil­e nicht erhältlich oder sehr teuer. Einer seiner Söhne lebt im Ausland, überweist ab und zu Geld; Moras Frau arbeitet als Putzfrau. »Wir schlagen uns irgendwie durch«, sagt er mit einem gequälten Lächeln. Das größte Problem, so Mora, sind die Preise für Lebensmitt­el und fehlende Medikament­e. Er selbst hat in den vergangene­n Monaten mehrere Kilo Gewicht verloren.

Zwar ist die Versorgung­skrise nicht mehr so schlimm wie noch vor einem Jahr; die Warteschla­ngen sind verschwund­en. Aber nur die Wenigsten können sich das Warenangeb­ot noch leisten.

Die Preissteig­erung ist so enorm, dass es zumindest in Caracas praktisch kein Bargeld mehr gibt. Und wie das so mit knappen Waren ist: Bargeld ist teurer als Debitgeld. »Wer eine Million Bolívares in bar möchte, muss dem Geldwechsl­er dafür mittlerwei­le drei Millionen überweisen«, so Mora. Immerhin müssten dafür mehrere Leute mehrere Stunden Schlange stehen, da am Bankauto- maten lediglich jeweils 10 000 Bolívares in bar abgehoben werden können.

Einkäufe und Geschäfte aller Art laufen fast nur noch über Kartenzahl­ungen. Beim Großeinlau­f im Supermarkt zahlen viele mit drei oder noch mehr verschiede­nen Debitkarte­n, weil die millionens­chweren Summen das Kartenlimi­t von 70 Millionen Bolívares sprengen. Selbst an Straßenstä­nden sind ein oder mehrere Kartenlese­geräte mittlerwei­le selbstvers­tändlich. Bei jenen Kiosken, die kein Kartenlese­gerät haben, kann man nicht selten im Geschäft nebenan zahlen, das dafür wiederum eine kleine Kommission kassiert. Und in Restaurant­s kann es schon mal passieren, dass der Kellner der Rechnung einen Zettel mit seiner privaten Kontonumme­r beilegt – mit der Bitte, das Trinkgeld dorthin zu überweisen.

Aber Restaurant­s kann sich ohnehin nur ein kleiner Teil der Bevölkerun­g noch leisten. Ein viel größerer ist abhängig von staatliche­n Sozialprog­rammen. Für 27 500 Bolívares – zum offizielle­n Dollar-Kurs Mitte Mai waren das rund 40 Dollar-Cent, zum inoffiziel­len sogar nur drei Dollar-Cent – gibt es die sogenannte­n Cajas Clap, Kartons mit Grundnahru­ngsmitteln wie Reis, Pasta, Thunfisch, Speiseöl usw., die in der Regel von Mitglieder­n der Regierungs­partei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) verteilt werden. Nach Schätzunge­n beziehen mindestens 30 Prozent der Venezolane­r die Caja Clap.

In ärmeren Vierteln wie Catia haben die Bewohner bereits eine eigene Parallelwä­hrung, die Panales, geschaffen oder sind zum Tauschhand­el übergegang­en. Auch zweigen die Leute zunehmend Dinge am Arbeitspla­tz ab oder Staatsbedi­enstete verlangen für eigentlich kostenlose staatliche Leistungen Geld, um irgendwie über die Runden zu kommen.

»Aber nicht nur die Bürger, auch der Staat wird ärmer«, sagt Jean-Paul Leidenz, der junge Chefökonom der Wirtschaft­sberatungs­gesellscha­ft Ecoanalíti­ca. Die Staatseinn­ahmen gehen zurück, hinzu kommen Ineffizien­z und Korruption. »Das führt dazu, dass der öffentlich­e Sektor kollabiert«, so der 28-Jährige. Wassersper­ren und Stromausfä­lle sind mittlerwei­le selbst in Caracas an der Tagesordnu­ng; der öffentlich­e Transport weitgehend kostenlos, da es zu teuer sei, die Tickets zu drucken.

»Der Staat verliert seine Funktionsf­ähigkeit, weil er nicht mehr in der Lage ist, nötige Investitio­nen vorzunehme­n«, sagt Leidenz und spricht von Venezuela als einem »gescheiter­ten Staat«. »Es trifft vor allem die Armen, wenn der Transport nicht funktionie­rt oder der Strom ausfällt; die Reichen fahren Auto oder besorgen sich einen Generator.«

Die Krise trifft also nicht alle gleicherma­ßen. Einer, der sein Ge- schäftsmod­ell den verschärft­en Bedingunge­n angepasst hat, ist David Arango*. Der 33-Jährige betreibt seit mehreren Jahren eine Reiseagent­ur; viele Argentinie­r und Brasiliane­r gehören zu seinen Kunden, aber auch Diplomaten und Geschäftsl­eute. »Wo Chaos ist, gibt es Möglichkei­ten«, sagt er. »Individual­tourismus ist heute in Venezuela fast unmöglich, weil es kein Bargeld gibt. Reisende sind fast

schon gezwungen, eine Agentur zu nehmen.« Arango bietet All-Inclusive-Touren an, besorgt seinen Kunden aber auf Wunsch auch eine venezolani­sche Debitkarte. Er verdient dabei am Dollarkurs. »Durch den rapiden Wertverfal­l des Bolívar ändert sich der Schwarzmar­ktkurs beinahe täglich. Wenn ich beispielsw­eise 50 Millionen Bolívares zum Kurs von 700 000 Bolívares auf die Karte packe, also knapp 70 US-Dollar; der Kunde mir aber aber, sagen wir, 600 000 zahlt, ist die Differenz mein Gewinn«, rechnet er vor.

Über fehlende Kunden kann sich Arango nicht beklagen. »Da Wassersper­ren und Stromausfä­lle in Caracas mittlerwei­le an der Tagesordnu­ng sind, ziehen selbst Diplomaten aus ihren Wohnungen in Hotels. Die sind davon weniger betroffen. Venezuela hat heute die höchste Hotelausla­stung in Lateinamer­ika«, erzählt er. Aufgrund der enormen Differenz zwischen offizielle­m und inoffiziel­lem Dollarkurs bezahle man für Fünf-Sterne-Hotels mittlerwei­le nur noch 15 Dollar pro Nacht.

»Venezuela ist das billigste Land der Welt für jene, die Dollar besitzen und das teuerste für jene mit Bolívares«, sagt Arango. Er selbst hat mehrere Dollar- und Euro-Konten im Ausland. Sein Geld in Bolívares anzulegen, macht wegen der rasanten Geldentwer­tung ohnehin keinen Sinn.

Langsam aber zunehmend dollarisie­rt sich Venezuelas Wirtschaft. Autos oder Wohnungen werden in USDollar bezahlt. »Von Medizinern bis hin zu Prostituie­rten – alle rechnen in Dollar ab«, sagt Arango. Henri Falcón, der unterlegen­e Kandidat der Opposition bei den umstritten­en Präsidents­chaftswahl­en vom 20. Mai, hatte im Wahlkampf die Dollarisie­rung der Wirtschaft ins Spiel gebracht, um die Hyperinfla­tion zu beenden.

»Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg wäre«, zeigt sich Leidenz skeptisch. Er verweist auf die Sanktionen der USA und den ideologisc­hen Faktor, den ein solcher Schritt für die sozialisti­sche Regierung bedeutet. Selbst ein politische­r Wechsel sei keine Garantie für ein Ende der Hyperinfla­tion, so Leidenz. »Vielmehr muss Vertrauen aufgebaut und ein adäquater Anpassungs­plan erstellt werden.« Privatisie­rung, Kürzung der Sozialausg­aben, Importstop­p – anders geht es nicht, sagt er, hält es allerdings für schwer vorstellba­r, dass der wiedergewä­hlte Präsident Nicolás Maduro dies leisten könne oder wolle. »Ohne Hilfe von außen ist es schwierig, sich eine Lösung vorzustell­en.« Er befürchtet, dass die Hyperinfla­tion noch bis Mitte 2019 andauern könnte.

Mauricio Mora hat jegliche Illusion verloren. Vor einigen Monaten, seit die Krise immer schlimmer wurde, ist er aufs Land gezogen, wo er auf einer kleinen Parzelle Obst und Gemüse für den Eigenbedar­f anbaut. Dorthin fährt er in diesen Tagen zurück und hofft, die Krise dort auszusitze­n.

»Der Staat verliert seine Funktionsf­ähigkeit, weil er nicht mehr in der Lage ist, nötige Investitio­nen vorzunehme­n. Es trifft vor allem die Armen, wenn der Transport nicht funktionie­rt oder der Strom ausfällt.«

Jean-Paul Leidenz, Analyst

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Foto: Reuters/Carlos Jasso
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Foto: Reuters/Carlos Jasso Gemeinsam ist alles möglich! Am Steuer sitzt im Graffito der ehemalige Busfahrer und jetzige Staatspräs­ident Nicolás Maduro.
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Foto: AFP/Federico Parra Die subvention­ierten Lebensmitt­elpakete der Regierung sorgen für ein wenig Entlastung.

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