Inflationsalltag
Massive Geldentwertung macht Venezuela zu schaffen.
Ein Ende der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Venezuela ist nicht absehbar. Geschätzt drei Viertel der venezolanischen Bevölkerung leben vom Mindestlohn, der durch die Hyperinflation entwertet wird.
Mauricio Mora kramt sein altes Tastenhandy hevor. Es ist kaum größer als eine Checkkarte, das Display ist zerkratzt und kaum zu erkennen. Viel schlimmer aber: Es ist nicht internettauglich – und gefährdet damit seine Geschäftsgrundlage. »Die wenigsten Kunden können heute noch in bar bezahlen«, sagt er. Früher hat der 51-Jährige als Taxifahrer sein Geld verdient; heute befördert er nur noch gelegentlich Fahrgäste durch Venezuelas Hauptstadt Caracas. Da er auch kein Kartenlesegerät besitzt, müssen seine Kunden ihm das Fahrgeld überweisen – auf das Konto seiner Tochter, wie er erklärt. Die besitzt ein Smartphone und kann Geldeingänge sofort registrieren. Erst wenn sie das OK gibt, fährt er los. »Sofortüberweisungen gehen aber nur, wenn man bei derselben Bank ist, ansonsten dauert es einen Tag, bis das Geld da ist«, sagt Mora. Man ahnt, dass dies vielen Kunden zu umständlich ist. Mora selbst auch. Aber für ein neues Smartphone hat er kein Geld.
Die rasante Geldentwertung in Venezuela hat Bargeld im »Sozialismus des 21. Jahrhundert« knapp werden lassen. Zumindest in der Hauptstadt Caracas sind Münzen und Scheine seit Anfang des Jahres praktisch verschwunden. Was in einigen Ländern Europas als Vision für die Zukunft diskutiert wird – die Abschaffung des Bargeldes – ist in Venezuela wider Willen derzeit Realität.
Venezuelas Staatsverschuldung und Sozialprogramme wurden jahrelang mit der Notenpresse finanziert. Als der Ölpreis und damit die Einnahmen sanken, eskalierte die Situation. Es herrscht Hyperinflation. Der Internationale Währungsfonds spricht von »einer der größten wirtschaftlichen Zusammenbrüche der vergangenen 50 Jahre« und prognostiziert für 2018 eine Teuerungsrate von 14 000 Prozent. Andere Experten werfen gar sechstellige Prozentzahlen in die Runde. Der Mindestlohn, gerade erst zum wiederholten Male erhöht, liegt bei 1 Million Bolívares und zusätzlich 1,55 Millionen Bolívares als Lebensmittelbonus pro Monat. Dafür bekommt man gerade einmal eine Büchse Thunfisch und ein Kilo Hühnchen, allerdings theoretisch auch mehrere (!) Tanklaster voller Benzin. Selbst wenn die in Aussicht gestellte erneute Verdreifachung des Mindestlohns auf drei Millionen Bolívares plus Lebensmittelbonus umgesetzt würde, entspräche dies nach aktuellem Schwarzmarktkurs nur noch knapp 1,5 US-Dollar.
Geschätzt drei Viertel der venezolanischen Bevölkerung leben vom Mindestlohn. Auch Mauricio Mora hat nicht viel mehr. »Taxifahren bringt es nicht mehr«, sagt er. Eine halbe Million Bolívares, weniger als einen USDollar, verdient er an einer Fahrt. »Für einen neuen Reifen muss ich 100 US-Dollar hinblättern«, rechnet Mora vor. Überhaupt seien Ersatzteile nicht erhältlich oder sehr teuer. Einer seiner Söhne lebt im Ausland, überweist ab und zu Geld; Moras Frau arbeitet als Putzfrau. »Wir schlagen uns irgendwie durch«, sagt er mit einem gequälten Lächeln. Das größte Problem, so Mora, sind die Preise für Lebensmittel und fehlende Medikamente. Er selbst hat in den vergangenen Monaten mehrere Kilo Gewicht verloren.
Zwar ist die Versorgungskrise nicht mehr so schlimm wie noch vor einem Jahr; die Warteschlangen sind verschwunden. Aber nur die Wenigsten können sich das Warenangebot noch leisten.
Die Preissteigerung ist so enorm, dass es zumindest in Caracas praktisch kein Bargeld mehr gibt. Und wie das so mit knappen Waren ist: Bargeld ist teurer als Debitgeld. »Wer eine Million Bolívares in bar möchte, muss dem Geldwechsler dafür mittlerweile drei Millionen überweisen«, so Mora. Immerhin müssten dafür mehrere Leute mehrere Stunden Schlange stehen, da am Bankauto- maten lediglich jeweils 10 000 Bolívares in bar abgehoben werden können.
Einkäufe und Geschäfte aller Art laufen fast nur noch über Kartenzahlungen. Beim Großeinlauf im Supermarkt zahlen viele mit drei oder noch mehr verschiedenen Debitkarten, weil die millionenschweren Summen das Kartenlimit von 70 Millionen Bolívares sprengen. Selbst an Straßenständen sind ein oder mehrere Kartenlesegeräte mittlerweile selbstverständlich. Bei jenen Kiosken, die kein Kartenlesegerät haben, kann man nicht selten im Geschäft nebenan zahlen, das dafür wiederum eine kleine Kommission kassiert. Und in Restaurants kann es schon mal passieren, dass der Kellner der Rechnung einen Zettel mit seiner privaten Kontonummer beilegt – mit der Bitte, das Trinkgeld dorthin zu überweisen.
Aber Restaurants kann sich ohnehin nur ein kleiner Teil der Bevölkerung noch leisten. Ein viel größerer ist abhängig von staatlichen Sozialprogrammen. Für 27 500 Bolívares – zum offiziellen Dollar-Kurs Mitte Mai waren das rund 40 Dollar-Cent, zum inoffiziellen sogar nur drei Dollar-Cent – gibt es die sogenannten Cajas Clap, Kartons mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Pasta, Thunfisch, Speiseöl usw., die in der Regel von Mitgliedern der Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) verteilt werden. Nach Schätzungen beziehen mindestens 30 Prozent der Venezolaner die Caja Clap.
In ärmeren Vierteln wie Catia haben die Bewohner bereits eine eigene Parallelwährung, die Panales, geschaffen oder sind zum Tauschhandel übergegangen. Auch zweigen die Leute zunehmend Dinge am Arbeitsplatz ab oder Staatsbedienstete verlangen für eigentlich kostenlose staatliche Leistungen Geld, um irgendwie über die Runden zu kommen.
»Aber nicht nur die Bürger, auch der Staat wird ärmer«, sagt Jean-Paul Leidenz, der junge Chefökonom der Wirtschaftsberatungsgesellschaft Ecoanalítica. Die Staatseinnahmen gehen zurück, hinzu kommen Ineffizienz und Korruption. »Das führt dazu, dass der öffentliche Sektor kollabiert«, so der 28-Jährige. Wassersperren und Stromausfälle sind mittlerweile selbst in Caracas an der Tagesordnung; der öffentliche Transport weitgehend kostenlos, da es zu teuer sei, die Tickets zu drucken.
»Der Staat verliert seine Funktionsfähigkeit, weil er nicht mehr in der Lage ist, nötige Investitionen vorzunehmen«, sagt Leidenz und spricht von Venezuela als einem »gescheiterten Staat«. »Es trifft vor allem die Armen, wenn der Transport nicht funktioniert oder der Strom ausfällt; die Reichen fahren Auto oder besorgen sich einen Generator.«
Die Krise trifft also nicht alle gleichermaßen. Einer, der sein Ge- schäftsmodell den verschärften Bedingungen angepasst hat, ist David Arango*. Der 33-Jährige betreibt seit mehreren Jahren eine Reiseagentur; viele Argentinier und Brasilianer gehören zu seinen Kunden, aber auch Diplomaten und Geschäftsleute. »Wo Chaos ist, gibt es Möglichkeiten«, sagt er. »Individualtourismus ist heute in Venezuela fast unmöglich, weil es kein Bargeld gibt. Reisende sind fast
schon gezwungen, eine Agentur zu nehmen.« Arango bietet All-Inclusive-Touren an, besorgt seinen Kunden aber auf Wunsch auch eine venezolanische Debitkarte. Er verdient dabei am Dollarkurs. »Durch den rapiden Wertverfall des Bolívar ändert sich der Schwarzmarktkurs beinahe täglich. Wenn ich beispielsweise 50 Millionen Bolívares zum Kurs von 700 000 Bolívares auf die Karte packe, also knapp 70 US-Dollar; der Kunde mir aber aber, sagen wir, 600 000 zahlt, ist die Differenz mein Gewinn«, rechnet er vor.
Über fehlende Kunden kann sich Arango nicht beklagen. »Da Wassersperren und Stromausfälle in Caracas mittlerweile an der Tagesordnung sind, ziehen selbst Diplomaten aus ihren Wohnungen in Hotels. Die sind davon weniger betroffen. Venezuela hat heute die höchste Hotelauslastung in Lateinamerika«, erzählt er. Aufgrund der enormen Differenz zwischen offiziellem und inoffiziellem Dollarkurs bezahle man für Fünf-Sterne-Hotels mittlerweile nur noch 15 Dollar pro Nacht.
»Venezuela ist das billigste Land der Welt für jene, die Dollar besitzen und das teuerste für jene mit Bolívares«, sagt Arango. Er selbst hat mehrere Dollar- und Euro-Konten im Ausland. Sein Geld in Bolívares anzulegen, macht wegen der rasanten Geldentwertung ohnehin keinen Sinn.
Langsam aber zunehmend dollarisiert sich Venezuelas Wirtschaft. Autos oder Wohnungen werden in USDollar bezahlt. »Von Medizinern bis hin zu Prostituierten – alle rechnen in Dollar ab«, sagt Arango. Henri Falcón, der unterlegene Kandidat der Opposition bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom 20. Mai, hatte im Wahlkampf die Dollarisierung der Wirtschaft ins Spiel gebracht, um die Hyperinflation zu beenden.
»Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg wäre«, zeigt sich Leidenz skeptisch. Er verweist auf die Sanktionen der USA und den ideologischen Faktor, den ein solcher Schritt für die sozialistische Regierung bedeutet. Selbst ein politischer Wechsel sei keine Garantie für ein Ende der Hyperinflation, so Leidenz. »Vielmehr muss Vertrauen aufgebaut und ein adäquater Anpassungsplan erstellt werden.« Privatisierung, Kürzung der Sozialausgaben, Importstopp – anders geht es nicht, sagt er, hält es allerdings für schwer vorstellbar, dass der wiedergewählte Präsident Nicolás Maduro dies leisten könne oder wolle. »Ohne Hilfe von außen ist es schwierig, sich eine Lösung vorzustellen.« Er befürchtet, dass die Hyperinflation noch bis Mitte 2019 andauern könnte.
Mauricio Mora hat jegliche Illusion verloren. Vor einigen Monaten, seit die Krise immer schlimmer wurde, ist er aufs Land gezogen, wo er auf einer kleinen Parzelle Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbaut. Dorthin fährt er in diesen Tagen zurück und hofft, die Krise dort auszusitzen.
»Der Staat verliert seine Funktionsfähigkeit, weil er nicht mehr in der Lage ist, nötige Investitionen vorzunehmen. Es trifft vor allem die Armen, wenn der Transport nicht funktioniert oder der Strom ausfällt.«
Jean-Paul Leidenz, Analyst