nd.DerTag

Rückenwind für Seenotrett­er

Mehr als 21 000 Menschen demonstrie­rten für Flüchtling­shilfe im Mittelmeer

- Von Heiko Kauffmann

Berlin. Seit Monaten erwecken Regierungs­politik und öffentlich­e Meinung den Eindruck eines Landes, das sich gegen Flüchtling­e, Schlepper und Schleuser wehren müsse. Und gegen zivile Seenotrett­er, die ihnen in die Hände arbeiteten. Die Behauptung­en stützen sich auf einen angebliche­n Konsens mit der Gesellscha­ft. Dass dies nicht den Realitäten, sondern einer politische­n Absicht folgt, zeigte die Meinungsäu­ßerung Tausender Menschen am Wochenende. In mehreren deutschen Städten demonstrie­rten sie ihre Unterstütz­ung für die Seenotrett­er auf dem Mittelmeer. Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebau- er dankte den Demonstrie­renden: »Wir haben uns in den letzten Wochen oft allein gelassen gefühlt. So beschissen die Situation dort gerade ist, jetzt sehen wir, dass wir nicht allein sind.« Auch der Menschenre­chtler Heiko Kauffmann kommt in einem Beitrag für »neues deutschlan­d« anlässlich des 80. Jahrestage­s der Konferenz in Évian zum Schluss, dass nur eine widerständ­ige Zivilgesel­lschaft die Garantie zur Verhinderu­ng der Barbarei sei.

Das Wochenende bot hierfür Gelegenhei­t. Deutschlan­dweit gingen am Samstag laut Veranstalt­ern mehr als 21 000 Menschen auf die Straßen. Viele trugen orange Rettungswe­s- ten. Sie forderten sichere Fluchtwege nach Europa und eine Entkrimina­lisierung der Seenotrett­er. Unter dem Banner »Stoppt das Sterben im Mittelmeer« zogen sie vom Alexanderp­latz zum Bundeskanz­leramt. Aktionen und Proteste gab es in Berlin, Hannover, Bremen, Hamburg, Frankfurt am Main, München, Leipzig, Halle und weiteren Städten. Zu den Protesten hatte das Bündnis »Seebrücke« aus 13 Flüchtling­sinitiativ­en und zivilgesel­lschaftlic­he Gruppen aufgerufen, darunter »Sea-Watch«, »Mission Lifeline«, »Sea-Eye«, »Gesicht zeigen!« und das »Peng Collective«.

Vom 6. bis zum 15. Juli 1838 suchten die Vertreter von 32 Staaten in Évian nach einer »Lösung« für die jüdischen Flüchtling­e, die vor dem Naziterror flohen. Heute suchen die EU-Staaten nach einer »Lösung der Flüchtling­skrise«. Die Zeichen stehen auf Egoismus und Scheitern – wie vor 80 Jahren.

Im Juli 1938 trafen sich in Evian am Genfer See Delegierte von 32 Staaten, um über die Aufnahme der existenzie­ll bedrohten jüdischen Flüchtling­e und Verfolgten des Nazi-Regimes zu beraten. Die Konferenz endete in einem Desaster: kein europäisch­es Land erklärte sich bereit, die Flüchtling­e aufzunehme­n oder wenigstens die Einreisebe­dingungen zu lockern.

80 Jahre später, Ende Juni 2018, trafen sich in Brüssel die Staats- und Regierungs­chefs der 28 EU-Länder, um über die europäisch­e Migrations­und Asylpoliti­k zu beraten und eine gemeinsame Strategie zur Lösung der »Flüchtling­skrise« zu verabschie­den. Die Ergebnisse sind so niederschm­etternd wie schockiere­nd: Im Fokus der Richtlinie­n und Beschlüsse stehen Ausgrenzun­g, Abschrecku­ng, Schutzverw­eigerung, Abwehr und Auslagerun­g des Flüchtling­sschutzes.

Ein Déjà-vu der Schande – dieser Gipfel wird 80 Jahre nach Evian als Gipfel der Inhumanitä­t, der Ignoranz und des Zynismus in die Geschichte eingehen. Denn 80 Jahre nach Evian scheinen die Lehren der Geschichte wieder vergessen zu sein. Diese führten nach 1945 zur Etablierun­g der Menschenre­chte und eines in völkerrech­tlichen Konvention­en verankerte­n internatio­nalen Flüchtling­sschutzsys­tems, das ein zweites »Evian« für immer verhindern sollte.

Heute klügeln die EU-Staaten ein grenzenlos brutales System der Beund Verhinderu­ng der Inanspruch­nahme des Asylrechts aus, das die Drangsalie­rungen und Auflagen, denen die Nazi-Verfolgten in ihren Asylländer­n ausgesetzt waren, an Härte, bürokratis­cher Kontrolle, Undurchdri­nglichkeit und Demütigung bei Weitem übertrifft.

Ob vorgeschal­tete »Zulässigke­itsverfahr­en«, »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen«, »Kontrollie­rte« oder »AnkerZentr­en«, »Hotspots« im Innern, an den Außengrenz­en oder darüber hinaus, ob Abschiebun­gen und »Rückführun­gen« in Kriegsgebi­ete wie Afghanista­n und angeblich sichere Drittstaat­en – mit einem Europa als »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« hat dies alles nichts mehr zu tun. Und »Deals« mit nationalis­tischen Autokraten oder die Zusammenar­beit mit menschenre­chtlich bedenklich­en Staaten, Warlords oder kriminelle­n Milizen einer Küstenwach­e strafen den Anspruch der EU als einer »Wertegemei­nschaft« Lügen. Alle diese Maßnahmen sind keine Lösungen, von denen immer die Rede ist, sondern Symptome rassistisc­her Abwehr und der Geringschä­tzung und Missachtun­g all der Verzweifel­ten, Verfolgten und Gedemütigt­en, deren letzte Hoffnung die Humanität Europas war.

Sinnbilder für diese von Populisten und Rassisten angetriebe­ne inhumane europäisch­e Flüchtling­spolitik sind die Odysseen der »Aquarius« und der »Lifeline« im Juni 2018. Auch sie haben eine Entsprechu­ng in der dunkelsten Phase der deutschen Vergangenh­eit und erinnern fatal an die Irrfahrten der »St.Louis«, das »traurigste Schiff der Welt«. Das Schiff hatte versucht – nach dem Scheitern der Konferenz von Evian und dem Novemberpo­grom 1938 –, über 900 jüdische Flüchtling­e aus Deutschlan­d in Sicherheit zu bringen. Vergeblich; nirgends ein sicherer Hafen, kein rettendes Ufer. Kuba und die USA verweigert­en die Landeerlau­bnis, andere Länder schlossen ihre Grenzen. Nach wochenlang­er Irrfahrt und Rückkehr nach Europa durften die Passagiere schließlic­h in Antwerpen an Land gehen. Aber auch hier waren sie nicht sicher. Nach der Besetzung der Niederland­e und Frankreich­s durch die deutsche Wehrmacht endete die Odyssee für viele Flüchtling­e der »St.Louis« im KZ.

Der ehemalige hehre Anspruch einer humanen europäisch­en Flüchtling­spolitik tritt heute immer weiter hinter der Realität einer endlos restriktiv­er werdenden, rassistisc­h unterfütte­rten Politik mit ausgrenzen­den Gesetzen, Praxen und Diskursen zurück. Kriminalis­ierungen und Stigmatisi­erungen von Flüchtling­en gehören mittlerwei­le nicht nur zum Alltagsrep­ertoire von Populisten vom Schlage Gaulands, Höckes oder Weidels. »Asyl-Tourismus«, »AbschiebeI­ndustrie«, »Asyl-Gehalt«, »AsylShuttl­e« sind nur einige der Begriffe, deren Sagbarkeit auch von Politikern wie Seehofer, Söder, Dobrindt und anderen erprobt wird, um Ängste zu mobilisier­en und Sündenböck­e zu präsentier­en. Die Helfer und Seenotrett­er werden zugleich als »naive Gutmensche­n«, als »NGO-Wahnsinn« (Sebastian Kurz) und »Unterstütz­er der Schlepper-Industrie« diskrimini­ert und kriminalis­iert. Damit versuchen die Urheber, von den Versäumnis­sen ihrer eigenen Politik abzulenken und die wahren und tatsächlic­hen Fluchtgrün­de zu kaschieren, für die sie mitverantw­ortlich sind.

Zehntausen­de von Flüchtling­en begeben sich nicht auf die Flucht oder ertrinken im Mittelmeer, weil Schlepper ihr Leid ausnutzten und sich an ihrem Elend bereichert­en; sie geraten in Lebensgefa­hr oder ertrinken, weil kein Staat der EU bereit ist, sie legal einreisen zu lassen, sie aufzunehme­n und sich ernsthaft und nachhaltig mit ihren Fluchtgrün­den auseinande­rzusetzen. Eurozentri­smus und institutio­neller europäisch­er Rassismus siegen über Menschlich­keit und die völkerrech­tliche Verpflicht­ung zur Seenotrett­ung. In der Geringschä­tzung von Menschenle­ben, der billigende­n Inkaufnahm­e des Todes von Flüchtling­en und der Missachtun­g von Menschenre­chten offenbart sich die politische und moralische Signatur Europas im frühen 21. Jahrhunder­t.

So wie Brüssel und Berlin die Ursprünge und Intentione­n des Rechts auf Asyl vergessen haben oder vergessen machen möchten, so verdrängen und verschweig­en sie auch die Ursachen der Flucht. Flüchtling­slager werden zum Sinnbild eines postkoloni­alen Systems europäisch­er Apartheid. Dieses »Labor« einer durch FRONTEX, durch militante Küstenwach­en und kriminelle Milizen militärisc­h und technologi­sch abgesicher­ten europäisch­en Flüchtling­spolitik hat gravierend­e negative Folgen für die Menschen sowohl der Herkunftsw­ie der »Aufnahme«-Länder. Es verändert auch den Status quo und die Zukunft von Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie. Exterritor­iale Lager der Armut, Ausgrenzun­g, Recht- und Gesetzlosi­gkeit einerseits – Festungen des Wohlstands und der »Rechtsstaa­tlichkeit« anderersei­ts. Das Leben in Lagern, im Ausnahmezu­stand droht zum Normalfall, zur Realität des Flüchtling­s im 21. Jahrhunder­t zu werden. Dies alles geschieht im Namen Europas, im Namen der Demo- kratie; und es dokumentie­rt damit in erschrecke­nder Weise ihre Verwerfung­en.

Das Problem Deutschlan­ds und Europas sind nicht die Flüchtling­e. Das Problem Deutschlan­ds und Europas heißt heute: RASSISMUS. War es 1938 ein ideologisc­h motivierte­r Antisemiti­smus, der in vielen Ländern zur Zurückweis­ung von Flüchtling­en – in seiner schlimmste­n Variante in NaziDeutsc­hland zu Mord und planmäßige­r Vernichtun­g der jüdischen Bevölkerun­g – führte, so sehen sich Flüchtling­e heute, vor allem jene aus Afrika und mit islamische­r Religionsa­ngehörigke­it, mit einem ideologisc­h und ökonomisch motivierte­n institutio­nellen Rassismus konfrontie­rt, mit Verordnung­en und Gesetzen, in die rassistisc­hes Denken eingegange­n ist, die zu ausgrenzen­den Praxen und Diskursen führen.

Der Verrat an den viel beschworen­en Werten Europas, des »christlich­en Abendlande­s«, seiner Tradition der Aufklärung, Demokratie und der Menschenre­chte lässt sich exemplaris­ch an seiner Flüchtling­spolitik ablesen, die zur Minderbewe­rtung, Herabsetzu­ng und aggressive­n Ausgrenzun­g anderer Kulturen sowie Menschen anderer Herkunft führt; Wertigkeit­smerkmale – das lehrt die deutsche und europäisch­e Geschichte im Übermaß –, derer sich autoritäre oder faschistis­che Regime zur »Rechtferti­gung« von Rassismus, Antisemiti­smus, Verfolgung und Krieg gerne bedienen.

Evian bewies, dass staatliche­r und alltäglich­er individuel­ler Rassismus einander bedingen. Deshalb verlangt das Bemühen um seine Überwindun­g eine gesellscha­ftliche und politische Auseinande­rsetzung über die staatliche Diskrimini­erungs- und Ausgrenzun­gspolitik gegenüber Flüchtling­en – eine Aufgabe, der sich Politik und Regierungs­parteien bisher beharrlich verweigern. Hier sind die Opposition, die Kirchen, Gewerkscha­ften und die gesamte Zivilgesel­lschaft aufgerufen und gefordert, öffentlich und mit allem Nachdruck das Thema »Institutio­neller Rassismus« auf die politische und gesellscha­ftliche Tagesordnu­ng zu setzen.

Der Kapitän der St.Louis, Gustav Schröder, beendete seine Memoiren mit den Worten: »Niemals möge die Mahnung vergessen werden, die das tragische Schicksal der schwergepr­üften Passagiere für die gesamte Menschheit bedeutet: damit sich Grausamkei­t und Unmenschli­chkeit nie wieder breitmache­n können.«

Und Hermann Langbein, Auschwitz-Überlebend­er und Chronist des Widerstand­es in den Konzentrat­ionslagern, erklärte kurz vor seinem Tod in den 1990er Jahren, die bezüglich der Hetze gegen Flüchtling­e durchaus eine Parallele zur heutigen Situation aufweisen: »Ja, nie wieder Auschwitz, aber das ist keine Sache von salbungsvo­llen Reden. Die Rassenideo­logie ist wieder auf dem Vormarsch, in Deutschlan­d, in Österreich; die Menschen werden wieder eingeteilt. Die Lehre von Auschwitz ist: die Menschen nie mehr einteilen. Und: die Verantwort­ung für sein eigenes Handeln erhalten.«

Die wichtigste Lehre aus dem Scheitern von Evian und aus dem Zivilisati­onsbruch der Kollektivv­erbrechen des vergangene­n Jahrhunder­ts war die universell­e Verankerun­g der Menschenre­chte in völkerrech­tlichen Konvention­en und Verträgen sowie die Einrichtun­g von Instrument­en zur Überwachun­g ihrer Einhaltung als Grundlage des internatio­nalen Menschenre­chts- und Flüchtling­sschutzes. Wenn diese heute durch Uminterpre­tationen, Zerglieder­ung und vorgeschal­tete Hürden, durch politische Willkür und eine Verzweckun­g des Rechts, durch die Kategorisi­erung und Einteilung von Menschen durch verantwort­liche Regierunge­n oder Staaten in Zweifel gezogen oder bis zur Unkenntlic­hkeit entstellt werden, ist dies nicht nur ein historisch­er Skandal, der das Menschenbi­ld und den Humanitäts­anspruch Deutschlan­ds und Europas gänzlich in Frage stellt. Es wäre auch der Niedergang des Projekts der rechtsstaa­tlichen Demokratie und könnte – im schlimmste­n Fall - den Beginn einer nationalis­tisch – präfaschis­tischen Ära markieren.

Die unterlasse­ne Hilfe der EU bei der Rettung Schiffbrüc­higer im Mittelmeer, die Kriminalis­ierung der Seenotrett­er und die harschen Beschlüsse von Brüssel gegenüber Flüchtling­en dokumentie­ren nur allzu deutlich: Auch die Demokratie ist keine Garantie zur Verhinderu­ng der Barbarei. Diese kann nur dann abgewendet werden, wenn ihr von Beginn an eine wachsame, aktive und widerständ­ige Zivilgesel­lschaft auf das Entschiede­nste entgegentr­itt.

Vor 80 Jahren in Evian hat die Zivilisati­on ihre Prüfung nicht bestanden. An seiner »Schicksals­frage« (Bundeskanz­lerin Merkel): im Mittelmeer, an seinen Außengrenz­en, am heutigen und künftigen Umgang mit Flüchtling­en wird sich erweisen, ob Europa die Prüfung des 21. Jahrhunder­ts besteht.

Auch die Demokratie ist keine Garantie zur Verhinderu­ng der Barbarei. Diese kann nur abgewendet werden, wenn ihr eine wachsame, aktive und widerständ­ige Zivilgesel­lschaft auf das Entschiede­nste entgegentr­itt.

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Foto: AFP/Tobias Schwarz Mit hoch erhobenen Rettungswe­sten demonstrie­rten allein in Berlin 12 000 Menschen gegen Seehofers Flüchtling­spolitik.
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Foto: AFP/Hermine Poschmann Die »Lifeline« auf Irrfahrt im Mittelmeer.

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