nd.DerTag

Anstand von unten

Robert D. Meyer über die Proteste gegen das Sterben im Mittelmeer

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Als im Oktober 2000 am Eingang einer Düsseldorf­er Synagoge mehrere Brandsätze explodiert­en, rief der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder zu einem »Aufstand der Anständige­n« auf, hinter dem sich die erste Riege der Politik versammelt­e. Selbst Bayerns Ministerpr­äsident Edmund Stoiber teilte die Ansicht: »Wegschauen ist nicht mehr erlaubt.«

18 Jahre später erfolgt solch ein mahnender Appell weder aus der Großen Koalition und schon gar nicht aus dem CSU-regierten Freistaat. Im Gegenteil: Während die Unanständi­gen auf den Parlaments- und Regierungs­bänken sitzen, sind es Tausende auf der Straße, die daran erinnern, dass dem Sterben im Mittelmeer zuzuschaue­n keine Option ist. Was unter dem Stichwort Seebrücke passiert, erinnert an den kurzen Spätsommer der Willkommen­skultur 2015.

Ein Wiederentd­ecken der Solidaritä­t, die für viele kaum noch sichtbar war, angesichts der von rechts bis tief hinein ins bürgerlich­e Lager vergiftete­n Migrations­debatte. Doch die Bewegung zeigt, wie darauf zu antworten ist: Öffentlich­e Räume besetzen, nicht auf Weckrufe von oben warten, den Menschen in Not und ihren Helfern ein Gesicht geben, den Diskurs mit eigenen Schlagwort­en übernehmen. Seebrücke statt Seehofer. So funktionie­rt Bewegung von unten.

Nun gilt es, Beharrlich­keit zu zeigen. Das politische Klima lässt sich nicht über Nacht zum Positiven wenden. Beginnt aber niemand, bliebe Humanität weiter eine Sonntagsre­dnerfloske­l.

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