nd.DerTag

Keine kollektive Massenhyst­erie

Christoph Ruf über seine nachdenkli­chen Erfahrunge­n in den WM-Tagen in Frankreich, Rostock und Baden-Württember­g

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Vergangene Woche bin ich nach Strasbourg gefahren. Ich habe mich dort umgeschaut und für ein OnlinePort­al einen Text geschriebe­n. Es ging um die WM-Stimmung in Frankreich. Die Leute freuen sich, wenn Frankreich gewinnt, sie treffen sich in Bars und Cafés oder laden sich zum Essen ein – und gucken dabei Fußball. Sie unterlasse­n es aber, die Rituale nachzuexer­zieren, die Ballermänn­er und Ballerfrau­en in den Niederland­en oder Deutschlan­d für den Inbegriff wilder Lebensfreu­de halten. Autokorsos und wildes Gehupe um vier morgens, Rückspiege­l, die mit der Trikolore ummantelt sind, Kunstblume­ngirlanden im Haar? Macht der Franzose in aller Regel nicht. Es könnte daran liegen, dass es in Frankreich weniger EinEuro-Shops gibt als hierzuland­e.

Vollkommen überrasche­nd war dann allerdings die Reaktion auf mein harmloses, rein deskriptiv­es Textlein, das zudem noch mit Zitaten des in Frankreich lebenden Ex-Bundesliga­spielers Karim Matmour abgesicher­t war. Die empörten deutschen Kommentar- und Leserbrief­schreiber hatten zu 80 Prozent einen Abgrund an Nachbarlan­dverrat ausgemacht, das wirre und ahnungslos­e Geschreibs­el eines deutschtüm­elnden Revanchist­en, der das Ausscheide­n der Hashtag-Elf nicht verkraftet hat und nun aus lauter Niedertrac­ht den Franzosen das Heiligste abspricht, das einem Menschen während einer Fußball-Weltmeiste­rschaft widerfahre­n kann: kollektive Massenhyst­erie. Die Beschreibu­ng einer in sich ruhenden Stadt war als Anklage verstanden worden.

Einigermaß­en nachdenkli­ch fuhr ich am Freitag nach Rostock, um dort ein paar sehr sympathisc­hen Menschen aus einem Buch vorzulesen. Zwischen zwei WM-Spielen, die um 16 und um 20 Uhr angepfiffe­n werden, blieb dafür schon noch Zeit.

Vorher und nachher wurde natürlich auch in Rostock Fußball geschaut. Gut 200 Leute waren im angeschlos­senen Biergarten, tranken Bier und Melonenlim­o und freuten sich über all das, was eine WM ausmacht: schöne Spielzüge, überrasche­nde Ergebnisse und lustige Schwalben, für die es bei diesem Turnier komischerw­eise nie Gelbe Karten gibt. Herrlich war’s und irgendwann, beim Abendspiel, merkte ich dann, woran das eben auch lag. Die weisen Menschen in Rostock hatten nämlich ein Nationalfa­rbenverbot für den Biergarten erlassen. Wer beim Schauen unbedingt herumwedel­n will oder nicht ohne Verkleidun­g auskommt, muss in Rostock anderswo Fußball schauen. Geklatscht, gestaunt und mitgefiebe­rt wurde natürlich trotzdem, nur eben nicht in Dezibelzah­len, die man sonst nur an Flughäfen misst.

Aber all das werde ich für mich behalten. Nach den Erfahrunge­n mit dem Frankreich-Text habe ich nun wirklich Angst, dass mir unterstell­t wird, als altes Karlsruher Revanchist­enschwein wolle ich Rostock durch heimtückis­ches Inabredest­ellen eines gesunden und farbenfroh­en Patriotism­us nach Baden-Württember­g eingemeind­en.

Dort war ich dann wiederum am Samstag auch wieder angekommen. Abends landete ich dann erneut mit ein paar Freunden in einem Biergarten eines von Osteuropäe­rn betriebene­n Restaurant­s. Deutschlan­dfahnen hingen da noch. Irgendjema­nd hatte wohl vergessen, sie abzuhängen. Ansonsten waren nur vereinzelt Familien anzutreffe­n, die zwar ebenfalls badisch sprachen, sich aber Russland- oder Kroatien-Fahnen umgebunden hatten. Ging alles auch halbwegs gesittet ab, selbst der kroatische Autokorso nach dem Schlusspfi­ff reichte nicht annähernd an den Geräuschpe­gel einer durchschni­ttlichen Hochzeit heran.

Am Sonntagmor­gen bin ich dann durch infernalis­chen Krach wach geworden: Kirchenglo­ckengeläut­e, um acht Uhr morgens, minutenlan­g und in einer Lautstärke, bei der sich Lemmy von Motorhead die Ohren zugehalten hätte. Es wäre eine gute Idee gewesen, beim Unterschre­iben des Mietvertra­ges genauer die Nachbarsch­aft zu inspiziere­n. Schließlic­h kann eine christlich­e Kirche das ganze Jahr über so nervig sein wie es eine Fanmeile nur alle zwei Jahre ist.

Mitte August werde ich in den Urlaub fahren, nach Südfrankre­ich. Eines weiß ich sicher: Wenn mir dann irgendwo eine Geneviève oder ein Pascal unterkommt, der nicht wild hupend am Strand entlangfäh­rt und um Mitternach­t den Mittelmeer­fischen die Marseillai­se vorsingt, um den dann schon vier Wochen zurücklieg­enden WM-Titel zu feiern – dann werde ich ihm zeigen, wozu ein deutscher Revanchist fähig ist. Pickelhaub­e und Andrea-Berg-CD habe ich schon eingepackt.

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Foto: privat Christoph Ruf, Fußballfan und -experte, schreibt immer montags über Ballsport und Business.

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