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Unter der Oberfläche

Autonome diskutiere­n, Ladenbesit­zer schimpfen und manche vermissen die Offenheit – Hamburg ein Jahr nach G20

- Von Christophe­r Wimmer, Hamburg

Ein Jahr nach den Protesten gegen G20 ist in Hamburg wieder Ruhe eingekehrt. Doch was bleibt vom Gipfel? Eine Spurensuch­e zum Jahrestag. Anne-Marie Krug weiß, was Krieg bedeutet. Die kleine Frau, die »schon immer« auf St. Pauli wohnt, hat ihn als Mädchen noch miterlebt. Sie kann daher nur den Kopf schütteln über diese Schlagzeil­e vom letzten Jahr nach dem G20-Gipfel: »Wie Krieg – Krawalle schocken Hamburg«. Krieg war es keiner, sagt Frau Klein, nur eine »wahnsinnig­e Dummheit«. Wütend ist sie auf die Polizei. Erst habe diese »großmäulig« verkündet, alles unter Kontrolle zu haben und sei dann über Stunden im Schanzenvi­ertel nicht eingeschri­tten. Die Folge: In Hamburg brannten Barrikaden. Der Gipfel wurde zum Desaster. Verständni­s für die »Chaoten«, wie Frau Klein sie nennt, äußert sie zwar nicht, aber »es war doch klar«, dass so etwas passieren würde.

Die »Chaoten«, von denen Frau Klein gesprochen hat, treffen sich am vergangene­n Freitagabe­nd im Autonomenz­entrum Rote Flora. Die linksradik­ale Gruppe Grow hat im Rahmen des »Festivals der grenzenlos­en Solidaritä­t«, das mit Podien und Vorträgen, Filmvorfüh­rungen, einer Radtour und einer Rave-Demo an den Jahrestag erinnern will, den Autor Achim Szepanski geladen, um über die Theorie des Aufstandes zu diskutiere­n. Knapp Hundert Leute sind gekommen. Der angebliche »Schwarze Block« erscheint an diesem Tag eher bunt und gut gekleidet: AdidasJack­en und teure Turnschuhe bestimmen die Szenerie. Eine Verständig­ung aber, wie man als radikale Linke zu der Randale vor einem Jahr steht, gibt es nicht. Am Jahrestag des Gipfels ist man, so scheint es, immer noch überforder­t. Auch an den linken Orte auf der Schanze reagiert man verlegen: »Wir haben als Kollektiv keine einheitlic­he Meinung zu den Protesten« – so oder so ähnlich ist es mehrfach aus Läden und Cafés zu hören, in denen man heute noch G20-Protest-Plakate findet.

Ingo Schepper arbeitet in einem Klamotten- und Plattenlad­en auf dem Schulterbl­att. Er findet klarere Worte. »Es gibt bis heute keine Regelungen, wie mit den Schäden und Umsatzeinb­ußen umgegangen wird«, so Schepper. Die vielen kleinen und inhabergef­ührten Läden blieben auf den Kosten sitzen. Man merkt dem Mann im schicken Polohemd auch ein Jahr danach noch seine Wut an. »Es muss doch klar gewesen sein, dass so ein Gipfel direkt neben der Schanze nicht funktionie­rt.« Das Verhalten der Verantwort­lichen in Staat und Polizei nennt er »unverantwo­rtlich«. Sie hätten die Zerstörung­en »billigend in Kauf genommen«.

Zwei Kilometer vom Schanzenvi­ertel entfernt betreut Theo Bruns eine Fotoausste­llung zu den Protesten, die derzeit im Hamburger Gängeviert­el gezeigt wird. Das Gängeviert­el wurde 2009 besetzt, um mit Wohnungen, Ateliers und sozialen Projekten einen Ort für Kunst und Kultur zu schaffen. »Konflikt und Konfetti« sei das Motto des Viertels im letzten Jahr gewesen. Man wollte Widerstand mit Kreativitä­t verbinden. Dies sei ein anderer politische­r Zugang als der der Autonomen – man verstehe sich aber. »Es ist doch gut, wenn sich verschiede­ne Aktionsfor­men ergänzen«, so Bruns. Während des Gipfels habe er erlebt, wie Menschen auf vielfältig­e Weise zusammenge­kommen sind. »Es kam zu neuen Begegnunge­n und es entwickelt­en sich neue Freundscha­ften, die bis heute bestehen.«

Dies ist auch für Feli (Name geändert) der wichtigste Aspekt zum Jahrestag. Am Tresen einer Kneipe an der Hafenstraß­e resümiert sie die Geschehnis­se: »Was bleibt, sind die Verbindung­en.« Sie spricht von der Vernetzung und der Solidaritä­t zwischen Aktiven aus verschiede­nen Gruppen, die vorher wenig verbunden hatte. »Wir sind alle von krasser Repression betroffen, aber diese Erfahrung stärkt auch den Zusammenha­lt.« Viele wurden durch G20 politisier­t, hätten die unmittelba­re Polizeigew­alt erlebt und seien immer noch aktiv. Geblieben sind allerdings auch die patrouilli­erenden Polizist*innen vor der Kneipe.

Spaziert man heute durch das Schanzenvi­ertel, fällt vor allem die veränderte Geräuschku­lisse auf. Das Dröhnen der Polizeihub­schrauber und die Martinshör­ner der Hundertsch­aften des letzten Jahres sind verschwund­en. An ihre Stelle ist wieder ganz normaler Autolärm getreten. Während des Gipfels waren die Stra- ßen vollständi­g gesperrt und somit als öffentlich­er Raum für die Protestier­enden nutzbar. Sie saßen zusammen und kamen ins Gespräch. Haustüren standen offen, viele Soli-Küchen boten Kaffee und Essen an, in Kneipen wurden Verletzte versorgt – oder einfach nur Schlafplät­ze angeboten.

Die Türen sind nun wieder verschloss­en und anstelle der Gipfelgegn­er*innen bestimmen Junggesell­enabschied­e und Fußballfan­s die Atmosphäre im Viertel. Doch unter dieser Oberfläche haben sich Beziehunge­n von Menschen entwickelt, die sich die Erfahrung der Solidaritä­t und die Möglichkei­t des Widerstand­s bewahrt haben. Vor dem Rewe-Supermarkt, der letztes Jahr geplündert wurde, fragt jemand nach Kleingeld. Während der Proteste sei es für ihn leichter gewesen, an Essen und Trinken zu kommen. Auch für ihn ist nun wieder Alltag eingekehrt. Besser ist der nicht.

An den linken Orte auf der Schanze reagiert man verlegen: »Wir haben als Kollektiv keine einheitlic­he Meinung zu den Protesten«, ist vielfach zu hören.

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Foto: dpa/Markus Scholz Ein Graffitti-Künstler erinnert ein Jahr nach den G20-Protesten an die Forderunge­n.

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