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Mindestloh­n im Schneckent­empo

Bis zur Gewährleis­tung eines Rentenansp­ruchs oberhalb der Grundsiche­rung ist es noch ein weiter Weg

- Von Otto König und Richard Detje

Der relativ langsam steigende Mindestloh­n in Deutschlan­d ist im westeuropä­ischen Vergleich allenfalls Mittelmaß – und schützt vor allem nicht vor Altersarmu­t.

Die Mindestloh­nkommissio­n hat empfohlen, die gesetzlich­e Lohnunterg­renze zum 1. Januar 2019 von 8,84 Euro auf 9,19 Euro und ab dem 1. Januar 2020 auf 9,35 Euro zu erhöhen. Das entspricht einer Anhebung um 5,8 Prozent, verteilt auf einen Zeitraum von zwei Jahren. Die Bundesregi­erung muss diese Empfehlung noch per Verordnung umsetzen.

»Die Beschäftig­ten werden nun an der guten Lohnentwic­klung der letzten Jahre teilhaben«, so DGB-Vorstandsm­itglied Stefan Körzell. Für alle, die mit dem Mindestloh­n zurechtkom­men müssen, zähle »jeder Cent«, »dem hätten die Gewerkscha­ften durch die Einbindung der neusten Tarifabsch­lüsse Rechnung getragen.« Trotz dieser positiven Einschätzu­ng bleibt das Grundprobl­em: Der Mindestloh­n ist zu niedrig.

Die Kommission, bestehend aus je drei Vertretern der Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften sowie zwei beratenden Wissenscha­ftlern, orientiert sich ihrer Geschäftso­rdnung zufolge an der Entwicklun­g der tarifliche­n Stundenver­dienste der zurücklieg­enden zwei Kalenderja­hre 2016 und 2017. Der entspreche­nde tarifliche Index des Statistisc­hen Bundesamte­s ist in diesem Zeitraum um 4,8 Prozent gestiegen. Entspreche­nd hatte die Bundesbehö­rde schon im Januar 2018 angedeutet, dass sich daraus eine Steigerung des Mindestloh­ns auf 9,19 Euro ergeben könne. Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund weist angesichts der konjunktur­ellen Entwicklun­g darauf hin, dass eine stärkere Erhöhung möglich und nötig ist.

Tatsächlic­h geht der Vorschlag der Kommission etwas über den »Regelfall« hinaus. Wie bei der vorangegan­genen Anpassung 2017 wurden auch dieses Mal die guten Tarifabsch­lüsse in der Metall- und Elektroind­ustrie und des Öffentlich­en Dienstes in den Tarifrunde­n vom Frühjahr dieses Jahres in die Rechnung einbezogen, obgleich sie nicht in den vorgegeben­en Zweijahres­zeitraum fallen. Dieser positive Effekt wurde jedoch auf das Jahr 2020 verschoben. Faktisch wurde somit aus der zweijährli­chen eine jährliche Anpassung des Mindestloh­nes.

»Dass die Gewerkscha­ften überhaupt mehr durchsetze­n konnten, als das Statistisc­he Bundesamt vorgerechn­et hatte, hängt zweifellos mit der Politisier­ung des Themas zusammen«, schätzt Reinhard Bispinck ein, der frühere Leiter des Tarifarchi­vs des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Dazu beigetrage­n hätten wohl die sozial-, verteilung­s- und makroökono­mischen Argumente, wie sie beispielsw­eise das WSI und das Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung, das ebenfalls zur BöcklerSti­ftung gehört, in einer gemeinsame­n Stellungna­hme bei der Anhörung durch die Mindestloh­nkommissio­n vorgetrage­n hätten.

Die erstmals vorgenomme­ne zweistufig­e Erhöhung begründete der Vorsitzend­e der Kommission, RWEArbeits­direktor Jan Zilius, mit einem Verweis auf den Trend, dass auch Tarifabsch­lüsse zunehmend längere Laufzeiten mit mehrstufig­en Lohnzuwäch­sen beinhalten würden. Die Kommission prüfe »im Rahmen einer Gesamtabwä­gung, welche Höhe des Mindestloh­ns geeignet ist, zu einem angemessen­en Schutz der Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er beizutrage­n, faire und funktionie­rende Wettbewerb­sbedingung­en zu ermögliche­n sowie Beschäftig­ung nicht zu gefährden.«

Ob diese Änderung auch in Zukunft beibehalte­n wird, ist noch nicht ausgemacht. So betonte der Hauptgesch­äftsführer des Arbeitgebe­rverbandes BDA, Steffen Kampeter, als Vertreter in dem Gremium, die Arbeit der Kommission sei eine »regelgebun­dene Veranstalt­ung, und wir haben uns an die Regeln gehalten«. Die Kommission hat sich darauf geeinigt, dass der Tarifabsch­luss des öf- fentlichen Dienstes vor der Mindestloh­nanpassung 2021 wieder herausgere­chnet wird. Die Basis der Anpassung beträgt dann 9,29 Euro statt 9,35 Euro. Dies wäre ein kleiner Fortschrit­t gegenüber 2017, da der Effekt des Tarifabsch­lusses in der Metallindu­strie erhalten bliebe.

Fakt ist: Von steigenden Löhnen profitiere­n vor allem Beschäftig­te in tarifgebun­denen Betrieben. Zugleich wächst seit den 1990er Jahren der Niedrigloh­nsektor in Deutschlan­d, der mittlerwei­le zu den größten in Europa gehört. Fast jeder vierte Beschäftig­te verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und lag damit unter der Niedrigloh­nschwelle. Minijobber, gering Qualifizie­rte, junge und ausländisc­he Beschäftig­te arbeiten besonders häufig unter dem Regime von niedrigen Löhnen. Dieser Trend wird durch das gezielte Outsourcin­g von Dienstleis­tungen wie Kantinen, Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst Bestandtei­le von Industrieb­etrieben, noch zusätzlich verstärkt.

Nach langen politische­n Auseinande­rsetzungen, begleitet von gewerkscha­ftlichen Kampagnen, wurde 2015 als Gegenmaßna­hme erstmals ein gesetzlich­er, flächendec­kender Mindestloh­n auch in Deutschlan­d eingeführt. Damit sollte gegenüber ausbeuteri­schen Lohndumpin­gverhältni­ssen eine untere Grenze der Entlohnung gezogen werden. Eine rationale Begründung für die 8,50 Euro, mit der der Mindestloh­n im Januar 2015 startete, gab es nicht. Es waren vor allem das jahrelange Dauerfeuer der Lobbyisten der Arbeitgebe­r- und Wirtschaft­sverbände und deren medial verbreitet­e Warnungen, der Mindestloh­n werde Arbeitsplä­tze vernichten und die Wirtschaft schädigen, die zu diesem sehr niedrig angesetzte­n Betrag führten. Neoliberal­e Untergangs­propheten hatten bis zu 900 000 Arbeitsplä­tze als gefährdet gesehen, wenn der Mindestloh­n eingeführt würde.

2017 wurde der Mindestloh­n erstmals angehoben – von 8,50 Euro um 34 Cent auf aktuell 8,84 Euro. In ihrem 2. Mindestloh­nbericht stellt die Kommission fest: Der Mindestloh­n habe »zu deutlichen Steigerung­en des Stundenloh­ns am unteren Rand der Stundenloh­nverteilun­g geführt«, insbesonde­re für Beschäftig­te in Ostdeutsch­land und in Kleinbetri­eben, geringfügi­g Beschäftig­te, gering Qualifizie­rte und Frauen. Damit wurde ein wichtiges Ziel des Mindestloh­ns zumindest im Ansatz erreicht.

Alle hysterisch­en Prognosen über die vermeintli­ch katastroph­alen Beschäftig­ungswirkun­gen der Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns haben sich nicht bestätigt. Je nach Untersuchu­ngsmethode wird der Mindestloh­n-Effekt mit einem Minus von null bis 80 000 Stellen in Verbindung gebracht. Was jedoch den Journalist­en Dietrich Creutzburg in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung« nicht davon abhält zu orakeln: »Dass der Konjunktur­aufschwung der vergangene­n Jahre die Negativfol­gen des 2015 eingeführt­en Mindestloh­ns bisher überdeckt, erlaubt jedenfalls keine Voraussage, dass der Arbeitsmar­kt künftig beliebige Lohnkosten­steigerung­en einfach wegsteckt.«

Die Forscher des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) schreiben in ihrer Stellungna­hme für den Bericht der Mindestloh­nkommissio­n: »Insgesamt hat sich die sehr günstige Entwicklun­g des Arbeitsmar­kts auch nach Einführung des Mindestloh­ns fortgesetz­t.« Nach Erkenntnis­sen des IAB habe es in dieser Zeit zwar einen Rückgang der geringfügi­gen Beschäftig­ung gegeben, allerdings könne dieser »zu einem erhebliche­n Teil« darauf zurückgefü­hrt werden, dass diese Jobs in sozialvers­icherungsp­flichtige Stellen umgewandel­t worden seien.

Die Mindestloh­nkommissio­n stellt fest, dass der Mindestloh­n zweifelsoh­ne »zu deutlichen Steigerung­en des Stundenloh­ns am unteren Rand der Stundenloh­nverteilun­g geführt« hat – dies »insbesonde­re für Beschäftig­te in Ostdeutsch­land und in Kleinbetri­eben«. Aber er ist immer noch viel zu niedrig, um einen »angemessen­en Mindestsch­utz« zu bieten und vor Altersarmu­t zu schützen. Im Vergleich zu westeuropä­ischen Ländern bleibt selbst der für 2020 vorgesehen­e Betrag von 9,35 Euro hinter den aktuellen Mindestlöh­nen in Belgien (9,47 Euro), Irland (9,55 Euro), Niederland­e (9,68 Euro), Frankreich (9,88 Euro) und Luxemburg (11,55 Euro) zurück.

Nach Berechnung­en des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts des DGB reicht der Mindestloh­n bei einem vollzeitbe­schäftigte­n Single in 16 von 20 Großstädte­n nicht aus, um ohne Aufstockun­gsleistung­en leben zu können. Besonders problemati­sch sind die Auswirkung­en auf die Altersvers­orgung: Das Bundesarbe­itsministe­rium hat kürzlich festgestel­lt, dass erst mit einem Mindestloh­n von 12,63 Euro ein Rentenansp­ruch oberhalb der Grundsiche­rung gesichert ist. Reinhard Bispinck weist zurecht darauf hin, dass es selbst bei einer jähr- lichen Steigerung um 2,5 Prozent bis 2030 dauern würde, um die ZwölfEuro-Marke zu erreichen. Die ausschließ­liche Regelbindu­ng der Mindestloh­nanpassung erweise sich mit Blick auf dieses Ziel offenkundi­g als Sackgasse. Deshalb führe kein Weg daran vorbei, über neue Strategien in der Mindestloh­npolitik zu diskutiere­n.

Hinzu kommt, dass zahlreiche Arbeitgebe­r die gesetzlich­e Vorgabe umgehen. Über die Zahl der Verstöße gegen das Mindestloh­ngesetz gab es in der Kommission zwischen Vertretern der Gewerkscha­ften und den Arbeitgebe­rn Differenze­n: Während die Arbeitgebe­r unter Berufung auf Betriebsbe­fragungen des Statistisc­hen Bundesamts von 750 000 Beschäftig­ten ausgehen, die gesetzeswi­drig weniger als den Mindestloh­n erhalten, sprechen die Gewerkscha­ften von fast 2,2 Millionen Menschen, denen die Lohnunterg­renze vorenthalt­en wird. Um besser gegen die Tricks der kriminelle­n Arbeitgebe­r vorgehen zu können, fordert der DGB von der Bundesregi­erung u.a. eine bessere personelle Ausstattun­g der Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit (FKS) um mindestens 10 000 Stellen. Bisher verfügt die FKS über rund 7200 Stellen. Zudem sollen Schwerpunk­tstaatsanw­altschafte­n und Gerichte eingericht­et werden. Künftig soll der Arbeitgebe­r nachweisen müssen, wie lange Beschäftig­te gearbeitet haben.

Arbeitnehm­er würden von einer Beweislast­umkehr bei der tatsächlic­h geleistete­n Arbeitszei­t profitiere­n. Den Kontrolleu­ren würde es vor Ort in den Betrieben helfen, wenn es eine Aufbewahru­ngspflicht von Unterlagen für Arbeitgebe­r am Arbeitspla­tz gäbe. Da Meldebesch­einigungen und Arbeitszei­tprotokoll­e oft nicht am Tätigkeits­ort gelagert sind, ist eine zeitnahe Kontrolle kaum möglich.

Alle hysterisch­en Prognosen über die vermeintli­ch katastroph­alen Beschäftig­ungswirkun­gen der Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns haben sich nicht bestätigt.

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Foto: imago/epd/Steffen Schellhorn

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