nd.DerTag

Purzelbäum­e der Fantasie

- Von Irmtraud Gutschke

Literarisc­her

Hintersinn, Ironie und Selbstiron­ie, kunstvolle Purzelbäum­e der Fantasie – was für geistige Herausford­erungen, was für ein Lesegenuss. Wie viele großartige Bücher wären von Oleg Jurjew noch zu erwarten gewesen. »Unbekannte Briefe« war nun sein letztes. Aus dem Verbrecher Verlag, wo es 2017 erschien, kam am Freitag die Nachricht, dass Oleg Jurjew am 4. Juli gestorben ist. So jung! Am 28. Juli wäre er 59 geworden.

Er hatte als Dichter begonnen, nachdem er in seiner Geburtssta­dt Leningrad Wirtschaft­smathemati­k und Systemtheo­rie studiert hatte. Wie man von daher zur Lyrik kommt? Wahrschein­lich auf der Suche nach Freiräumen, weil da im Bewusstsei­n noch etwas ist, das in kein Schema passt. Seine

Ein leiser, nachdenkli­cher Mann ohne Illusionen ist Jurjew gewesen, aber vielleicht deshalb auch von einer metaphysis­chen Sehnsucht beseelt.

Lebenserfa­hrung hatte ihn skeptisch gemacht gegenüber jeglicher Ideologie. Ein leiser, nachdenkli­cher Mann ohne Illusionen ist Oleg Jurjew gewesen, aber vielleicht deshalb auch von einer metaphysis­chen Sehnsucht beseelt. »Ich wünschte mir, die grünen Sterne seufzten im Flaum der Nacht«, das las ich in seinem zweisprach­igen Band »V dvuch serkalach – In zwei Spiegeln«, der, 2012 im Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen, Gedichte aus den Jahren 1984 bis 2011 enthielt. Also noch aus seiner Leningrade­r Zeit.

1991 hatte Oleg Jurjew mit seiner Frau, der Schriftste­llerin Olga Martinowa, und dem kleinen Sohn Daniel der auseinande­rbrechende­n Sowjetunio­n den Rücken gekehrt. In Frankfurt am Main richteten sie sich im deutschspr­achigen Literaturb­etrieb ein. Wobei Jurjews Bücher auch auf dem russischen Buchmarkt präsent gewesen sind. Keine Massenware, sondern schillernd­e literarisc­he Schöpfunge­n. In Deutschlan­d kam Jurjew zur Prosa. In Romanen wie »Halbinsel Judatin«, »Spaziergän­ge unterm Honigmond«, »Der neue Golem oder der Krieg der Kinder und Greise«, »Die russische Fracht«, um nur einige zu nennen, schuf er eine ganz eigene Welt mit bizarren Gestalten, aberwitzig­en Vorgängen, raffiniert­en Sprachbild­ern. Darunter verborgen der Ernst seiner eigenen Lebenserfa­hrungen, seiner Fragen, seiner Trauer. Wie zum Beispiel in »Halbinsel Judatin« zwei 13-jährige Jungen in ihren Betten liegen, sich übereinand­er Gedanken machen, ohne voneinande­r zu wissen, dass sie Juden sind, das kann man als Auseinande­rsetzung mit alltäglich­em Antisemiti­smus betrachten, aber da ist keine Absicht, da brodelt in der Tiefe, ins Befremdlic­he überhöht, ein eigenes Erleben.

»Unbekannte Briefe« war der erste Roman, den Jurjew auf Deutsch geschriebe­n hat. Ein literarisc­hes Kabinettst­ück. Um Schriftste­ller, die ins Abseits geraten sind, geht es darin. Da wendet sich Jakob Michael Reinhold Lenz an Nikolai Karamsin, seinen Gönner. Nikolai Pryschow beschwert sich bei Dostojewsk­i darüber, wie er ihn im Roman »Die Dämonen« porträtier­te. Und Leonid Dobytschin hat sich nicht, wie allgemein angenommen, in die Newa gestürzt, nachdem man ihn auf der Versammlun­g des Schriftste­llerverban­ds 1936 niedergema­cht hatte. Vom Sowchos Schuschare­n aus beobachtet er das Treiben seiner Kollegen. »Ein Buch über Tod und Unsterblic­hkeit der Dichter«, so lobte der Verlag.

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