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Kleinstadt Amerika

Die Serie »Sharp Objects« handelt nicht nur von zwei Morden, sondern auch von der Suche eines Landes nach seiner Mitte

- Von Jan Freitag

Wenn Eltern bei Kindern für Ordnung sorgen, sind die Rollen verteilt. Mutter meckert, Mädchen schweigt – so ist es auch bei Camille Preaker, als Mama Adora ihr für Frevel der vorigen Nacht die Leviten liest. »Blamier’ mich nicht noch mal!«, fordert sie von der Tochter und legt wütend »das fällt bloß auf mich zurück« nach. Was Erziehungs­berechtigt­e halt so sagen, wenn sich Heranwachs­ende voll daneben benehmen. Nur: Adora ist seit locker 15 Jahren nicht mehr erziehungs­berechtigt, weshalb Camille allein entscheide­n darf, wie sie sich nach welcher Alkoholmen­ge benimmt. Zumindest in der Großstadt St. Louis.

Im kleinen Wind Gap dagegen hat Adora das Sagen. Und die findet es gar nicht lustig, dass ihr Kind nach Jahren der Abwesenhei­t als Reporterin ins ländliche Missouri zurückkehr­t, um bei der Recherche zweier Mädchenmor­de besoffen im schrottrei­fen Volvo zu pennen. Die neue HBO-Serie »Sharp Objects« handelt also nur an der Oberfläche von einem Kriminalfa­ll in der amerikanis­chen Provinz. Darunter geht es um viel, viel mehr. Mit jeder Flasche Schnaps aus der Hotelbar nämlich, mit jeder Rückblende in die Zeit ihrer Jugend, mit jeder Selbstausb­eutung im Dienst der Wahrheit über sich und die alte Kleinstadt­welt wird klarer: Am Beispiel der unfreiwill­ig heimgereis­ten Camille leuchtet der Achtteiler die amerikanis­che Gesellscha­ft im Ganzen aus.

Wie schon in seiner grandiosen Speckgürte­l-Studie »Big Little Lies«, gelingt es Jean-Marc Vallées Adaption von Gilbert Flynns Bestseller »Gone Girl« eindrucksv­oll, Orte durch seine Menschen zu beschreibe­n. Und das stockkonse­rvative, alkoholver­nebelte, schweißtri­efende, irgendwie diffuse Wind Gap ist da- bei die uramerikan­ische Mischung aus unreflekti­ertem Traditiona­lismus und dem unverwüstl­ichen Glauben der Eingeboren­en, ihrer Zeit weit voraus zu sein, nicht weit hinterher.

Dank Hauptdarst­ellern wie der kontrollsü­chtigen Patricia Clarkson als Adora und Nebenfigur­en wie dem ewig verschwitz­ten Polizeiche­f Vickery (Matt Craven), erzählt Vallée folglich weniger die Geschichte einer trostlosen Existenz auf der Suche nach den Abgründen ihrer Biografie; er zeigt uns ein gekränktes Amerika der selbstbewu­ssten Loser, die einen Reaktionär ins Weiße Haus gewählt haben und nun ausdauernd verwechsel­n, was Vergangenh­eit, was Gegenwart ist.

Dass die psychisch labile Alkoholike­rin Camille – wunderbar lebenswund gespielt von Amy Adams (»American Hustle«) – ständig als eigensinni­ger Teenie der Achtziger

Dafür muss Jean-Marc Vallée keine Landeier mit Pick-up-Truck und Make-America-Great-Again-Kappe zeigen; ihm reicht es, Ronald Reagans Neokonserv­atismus so in Donald Trumps Neodiletta­ntismus einsickern zu lassen, als hätte die liberale Ära zwischendu­rch nie stattgefun­den.

Klingt politisch, dröge, verkopft? Keine Sorge – die Jagd nach dem Mädchenmör­der ist zugleich bestes Krimienter­tainment, Camilles Suche nach ihren inneren Dämonen feinstes Melodramen-Fernsehen und alles zusammen ein herausrage­ndes Filmzeugni­s der quälenden Hatz nach Halt im Gestern, wenn das Heute zerbröselt.

Verfügbar auf Sky im englischen Original, ab dem 30. August auch auf Deutsch.

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Foto: HBO/Sky Atlantic Lässt sich für Camille (Amy Adams) nur vernebelt ertragen: Das Leben in der Kleinstadt Wind Gap

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