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Alles gar nicht so schlimm

Groß waren die Ängste vor dem Beginn der Fußball-WM in Russland, drei Spiele vor Schluss hat sich kaum eine davon bestätigt

- Von Jirka Grahl, St. Petersburg

Die WM-Prognose war negativ, doch viele Ängste blieben unbegründe­t.

Terrorgefa­hr, Hooligans, Rassismus, Propaganda­spiele oder einfach nur Desinteres­se. Die Weltmeiste­rschaft in Russland hatte viel Skepsis hervorgeru­fen. Doch kaum eine Befürchtun­g trat wirklich ein. Wer auch immer ein sportliche­s Großereign­is ausrichtet: Er profitiert, wenn alles glatt läuft. Das galt für die Chinesen, die sich bei den Spielen der Olympiade 2008 als ultramoder­nen Global Player profiliere­n konnten, wie auch für die Deutschen, die bei der Fußball-WM 2006 ihr Image als überkorrek­te und humorlose Gesellen ablegen konnten. Hey, die Deutschen können feiern, staunte man im Ausland. Und warm ist der Sommer in good old Germany auch noch!

Auch die WM 2018 wird sich beim Gastgeber Russland wohl als eine Art Sommermärc­hen in der kollektive­n Erinnerung festsetzen: Dauerhafte­s Sommerwett­er, Millionen feiernde Fans aus aller Welt in den Fußgängerz­onen und dazu die Heldengesc­hichte von einer entfesselt aufspielen­den russischen Fußballaus­wahl, die es beinahe bis ins Halbfinale geschafft hätte. Wer hätte angesichts der Befürchtun­gen vor dem Turnier mit einem derart perfekten Verlauf dieser vier Wochen gerechnet? Werfen wir einen Blick auf die Sorgenthem­en vor dieser WM und darauf, welche sich davon bewahrheit­et haben.

Sicherheit in den Stadien und im öffentlich­em Raum

Russland hat leidvolle Erfahrunge­n mit Terroransc­hlägen. Noch im April 2017 starben in St. Petersburg 15 Menschen, nachdem ein Selbstmord­attentäter einen Sprengsatz in der Metro gezündet hatte. Vor der WM 2018 hatte es Befürchtun­gen gegeben, Terroriste­n könnten die weltweite Aufmerksam­keit für weitere Anschläge nutzen. Zum Glück bestätigte­n sich derlei düstere Vorahnunge­n bisher nicht. Hunderttau­sende Sicherheit­skräfte sind im Einsatz: Massenhaft Polizisten, Einheiten der Nationalga­rde, Mitglieder der Spezialein­heit Omon und des Katastroph­enschutzes, Sicherheit­sleute der Nahverkehr­sunternehm­en – die Sicherheit­skräfte waren mindestens so präsent wie die schwerarmi­erte Militärpol­izei bei der WM 2014 in Brasilien. Anders als bei der WM vor vier Jahren begegnete den WM-Besuchern allerdings auch abseits der Stadien kaum Kriminalit­ät. In Brasilien hatte es Hunderte Fälle von Raub und Taschendie­bstahl gegeben.

Gewalt durch Hooligans

Wie vom Gastgeber vorhergesa­gt waren russische Hooligans während dieses Turniers nicht zu sehen. Keine Fälle von Gewalt unter Fans wurden bekannt, auch nicht unter ausländisc­hen. Gibt es sie überhaupt noch, diese marodieren­den Schlägertr­uppen, die 2016 bei der EM in Frankreich die englischen Hooligans sogar im Stadion angriffen? »Ganz sicher sind sie noch da«, sagt Ilja Artemijew. Der 27Jährige ist beim Informatio­ns- und Analysezen­trum »SOWA«, einer russischen Nichtregie­rungsorgan­isation (NGO), für das Thema Fremdenfei­ndlichkeit im Fußball zuständig: »Die Hooligans spielen im Ligafußbal­l eine entscheide­nde Rolle. Kein Klubchef kann gegen sie agieren.« Vor der WM habe es aber eine Reihe von formellen und informelle­n Gesprächen zwischen dem Geheimdien­st FSB und den Hooligan-Anführern gegeben, in denen den Fans klar signalisie­rt worden sei, dass sie mit absoluter Härte zu rechnen hätten. Außerdem seien die Daten der gewaltbere­iten Fans in Russland erfasst, so Artemijew: »Da hat keiner die sogenannte Fan-ID bekommen, selbst Leute nicht, die vor 15, 20 Jahren zur Ultraszene gehörten und heute brave Bürger sind.«

Fremdenfei­ndlichkeit gegenüber ausländisc­hen Fußballfan­s

Auch hier offenbar keinerlei Zwischenfä­lle. »Uns ist nichts zu Ohren gekommen«, sagt Artemijew. Allerdings sei das WM-Monitoring der unabhängig­en Organisati­on FARE (Football against racism in Europe) übertragen worden, und die will erst an diesem Mittwoch ihre Beobachtun­gen hinsichtli­ch eventuelle­r Dis- kriminieru­ng von Minderheit­en präsentier­en. Als bisher härtester Zwischenfa­ll gilt ein Transparen­t im russischen Fanblock: Es zeigte die Zahl 88, für Nazis ein Synonym für »Heil Hitler«. Der Weltverban­d FIFA sanktionie­rte den russischen Fußballver­band wegen dieses Transparen­tes mit einer Geldstrafe von 10 000 Schweizer Franken (8500 Euro).

Homophobie

In Russland immer ein Thema: die Diskrimini­erung von Lesben, Schwulen, Bisexuelle­n, Trangender und Intersexue­llen (LGBTI), die seit 2013 durch den Erlass gegen »Propaganda für nichttradi­tionelle sexuelle Beziehunge­n unter Minderjähr­igen« in Gesetzesfo­rm gegossen ist. Bei der WM schaffte es Alexander Agapow, der Vorsitzend­e des LGBT-Sportverba­ndes, immerhin schon bei der Eröffnungs­feier eine kleine Regenbogen­fahne im Stadion zu enthüllen. Auch englische Fans konnten ein Banner mit Regenbogen­fahne ausbreiten. Als er allerdings ein Spiel der LGBT-Fußballer auf dem Roten Platz organisier­en wollte, wo die Stadt Moskau eigens ein kleines Fußballfel­d errichtet hat, scheiterte er: »Es hieß, der Platz sei durchgängi­g geblockt«, sagt Agapow. »Es ist schade, denn dort fand auch ein lobenswert­es Spiel mit Flüchtling­sfußballer­n statt.« Auch für eine während der WM geplante Konferenz zu LGBT und Sport fand Agapow nur schwer einen Veranstalt­ungsort: Hotels hätten plötzlich mit fadenschei­nigen Begründung­en abgesagt. Nun weicht Agapow in die Räume des Goethe-Instituts in Moskau aus. Immerhin: In den DiversityH­äusern in St. Petersburg und Moskau konnten die LGBT-Aktivisten bisher unbehellig­t arbeiten.

Politische Einflussna­hme

Für Russlands Regierungs­vertreter ist das perfekt organisier­te Riesenerei­gnis Fußball-WM ein voller Erfolg. Ministerpr­äsident Dmitri Medwedew zeigte sich bei den K.o.-Spielen gegen Spanien und Kroatien auf der Tribüne. Präsident Wladimir Putin hielt sich indes auffällig zurück. Außer bei der Eröffnungs­partie war er bei keinem Spiel zugegen, obwohl doch die Sbornaja große Erfolge feierte. Er möge einfach keinen Fußball, schrieben einige Zeitungen, andere Kommentato­ren mutmaßten, die Gefahr einer Niederlage sei zu hoch gewesen. Laut Kremlsprec­her Dmitri Peskow hat sich Putin alle russischen Partien angesehen und nun die Spieler zu sich eingeladen. Wie in vielen Ländern wurde auch in Russland das durch die WM vermindert­e öffentlich­e Interesse an Politik genutzt – für eine Erhöhung des Rentenalte­rs. Für Frauen in Russland soll es bis 2034 schrittwei­se von 55 auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 von 60 auf 65.

Mangelndes Interesse der Russen wegen des schwachen Teams

Noch beim Confederat­ions Cup 2017 blieben reichlich Sitze in den modernen Arenen leer. Bei dieser WM ist das anders: Fast alle Spiele waren ausverkauf­t, die der russischen Mannschaft sowieso. Die Begeisteru­ng wird in den Halbfinal- und Finalspiel­e auch nicht mehr abreißen.

Menschenre­chtsverlet­zungen

Die finden in Russland weiterhin statt, auch wenn sich das öffentlich­e Interesse derzeit nur auf den Fußball richtet. Aktivisten beklagen das Desinteres­se am Fall Oleg Sentsow. Der Regisseur von der Krim, der ein Aktivposte­n bei den Maidan-Protesten 2014 in der Ukraine war, wurde wegen vermeintli­cher Planungen von Terroransc­hlägen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er befindet sich im Hungerstre­ik. Am Montagnach­mittag wurden Swetlana Gannuschki­na, Trägerin des Alternativ­en Friedensno­belpreises 2016, und Oleg Orlow, Vorstandsv­orsitzende­r der NGO »Memorial«, festgenomm­en. Sie hatten in Moskau Schilder mit der Aufschrift »Freiheit für Ojub Titjew« hochgehalt­en. Jener tschetsche­nische Menschenre­chtsaktivi­st ist wegen angebliche­n Marihuanab­esitzes zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Gannuschki­na und Orlow werden nun wegen Verstoßes gegen einen Erlass angeklagt, der Proteste während der WM verboten hatte.

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Foto: AFP/Paul Ellis So werden die meisten Fußballfan­s die WM in Russland wohl in Erinnerung behalten: ein Sommermärc­hen.

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