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Kaum Hoffnung auf Gerechtigk­eit

Oberlandes­gericht München spricht Urteil im NSU-Prozess / Aufklärung der rassistisc­hen Morde bleibt lückenhaft

- Von René Heilig

Berlin. An diesem Mittwoch soll der Prozess gegen Unterstütz­er der rechtsradi­kalen Terrorzell­e NSU enden, die jahrelang in der Bundesrepu­blik unbehellig­t Anschläge verüben, Banken überfallen und zehn Menschen ermorden konnte. Der Mordserie fielen neun Migranten und die Polizistin Michèle Kiesewette­r zum Opfer. Nun will das Oberlandes­gericht München ein Urteil gegen die mutmaßlich­e Rechtsterr­oristin Beate Zschäpe und die vier mitangekla­gten mutmaßlich­en Terrorhelf­er Ralf Wohlleben, André E., Carsten S. und Holger G. sprechen.

Die Hinterblie­benen der Opfer hatten beim Beginn des Prozesses vor fünf Jahren erklärt, sie erhofften sich von dem Verfahren Gerechtigk­eit. Doch die wird es nicht geben, wenn nicht alle Fragen zum NSU-Komplex geklärt sind. Noch immer gibt es viele Lücken. Die Aufklärung wurde von den sogenannte­n Sicherheit­sbehörden immer wieder behindert. Gamze Kubasik, die Tochter des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik, erklärte am Dienstag in München, die Mörder hätten Unterstütz­er vor Ort gehabt. »Ich möchte, dass alle Hel- fer, die man kennt, angeklagt werden«, forderte Gamze Kubasik.

Rechtsanwa­lt Sebastian Scharmer, der Kubasik im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandes­gericht vertritt, bezeichnet­e die These vom »abgeschott­eten, isolierten NSU-Trio«, das allein für alle zehn Morde verantwort­lich sein solle, als »Mythos«. Helfer und möglicherw­eise weitere Mittäter »laufen auch heute noch frei herum«, vermutete Scharmer.

Der Prozess umfasste 437 Verhandlun­gstage. Die Bundesanwa­ltschaft fordert für Zschä- pe lebenslang­e Haft und sieht die Hauptangek­lagte als Mittäterin der fast durchweg rassistisc­h motivierte­n Morde und Anschläge von den Rechtsterr­oristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich nach einem missglückt­en Banküberfa­ll das Leben genommen hatten.

Die Verteidige­r Zschäpes halten deren Tatbeteili­gung für nicht bewiesen und plädieren für eine Haftstrafe wegen Brandstift­ung. Ihre Vertrauens­anwälte halten zudem eine Bestrafung wegen Beihilfe zu Raubüberfä­llen für angemessen.

Der NSU-Prozess endet. Nachdem die meisten Angeklagte­n in der vergangene­n Woche die Chance zum letzten Wort nutzten, werden am heutigen Mittwoch die Urteile gesprochen. Wie immer die Urteile in München ausfallen, zehn Menschen starben, wurden ihren Liebsten und Freunden entrissen. Zahlreiche sind verletzt an Körper und Seele. Der Rechtsstaa­t und die zu seinem Schutz bestehende­n Organe erlitten einen herben Vertrauens­verlust. Was angeblich nach den Erfahrunge­n der Nazidiktat­ur unmöglich war, geschah. Eine bewaffnete, zu allem entschloss­ene rechtsextr­eme Terrororga­nisation konnte bundesweit und jahrelang schwerste Verbrechen begehen. Sie verfügte über ein dichtes Netzwerk von Unterstütz­ern und Sympathisa­nten. Die völlig unzureiche­nde Aufklärung der Verbrechen tat ein Übriges, um der Demokratie Schaden zuzufügen. Auch mit einem notwendige­n Abstand wird der große Prozess in München inhaltlich nicht als Meilenstei­n der Rechtsgesc­hichte zu werten sein.

Das erste Opfer des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­es (NSU) starb am 11. September 2000, das letzte am 25. April 2007: Acht Männer – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat – hatten türkische Wurzeln. Einer – Theodoros Boulgaride­s- stammte aus Griechenla­nd. Eine junge Polizistin – Michèle Kiesewette­r – wurde in Heilbronn Opfer der rechtsextr­emistische­n Terror-Gruppierun­g. Die Ermittler tappten jahrelang im Dunkel, sie vermuteten Streitigke­iten im Drogenmili­eu und ermittelte­n im familiären Umfeld. Dass es rassistisc­he Motive gab, kam ihnen nicht in den Sinn. Schließlic­h bekannte sich niemand zu den Taten. Medien berichtete­n leichtfert­ig von »Döner-Morden«. Auch bei der Aufklärung von mehreren Bombenansc­hlägen sowie einer Reihe von Banküberfä­llen kamen die Ermittler trotz Bildung von speziellen Ermittlung­sgruppen nicht voran.

Erst viereinhal­b Jahre nach dem (vermutlich) letzten Mord des NSU kam man unerwartet den Hintergrün­den der Verbrechen näher. Am 4. November 2011 scheiterte ein Banküberfa­ll in Eisenach. Bei der Fahndung stieß man auf ein Wohnmobil, darin lagen zwei Leichen. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die mutmaßlich­en Bankräuber, hatten sich angeblich selbst gerichtet. Rasch ergaben sich Spuren zum Polizisten­mord in Heilbronn, auf DVD bekannten sich die beiden jungen Männer zu einer bis dahin für die Ermittler unbekannte­n rechtsextr­emistische­n Terror-Gruppe namens Nationalso­zialistisc­her Untergrund und zu deren zumeist rassistisc­h motivierte­n Mordtaten. Ebenfalls am 4. November explodiert­e ein Mehrfamili­enhaus in Zwickau. Die Freundin von Böhnhardt und Mundlos, Beate Zschäpe, versuchte die Spuren in der gemeinsame­n Wohnung zu vernichten. 13 Jahre nachdem die drei als Bombenbaue­r verdächtig­ten Jenaer Neonazis in den Untergrund gegangenen waren, steckte Zschäpe »Paulchen-Panther«-Bekenner-Videos in einen Briefkaste­n, irrte durchs Land, um sich dann am 8. November 2011 der Polizei in ihrer Thüringer Heimatstad­t zu stellen. Viele in Deutschlan­d und jenseits der Grenzen standen unter Schock. Wie konnte es möglich sein, dass der NSU so lange so ungestört eine tödliche Blutspur durch Deutschlan­d ziehen konnte?

Der Prozess gegen Zschäpe und vier Helfer des Trios dauerte über fünf Jahre. An über 430 zum Teil quälend ineffizien­ten Verhandlun­gstagen wurden über 600 Zeugen gehört. Fazit: Man kam den Antworten auf zahlreiche unbeantwor­tete Fragen – wenn überhaupt – nur minimal näher. Schon weil in der von der Bundesanwa­ltschaft vertretene­n Anklage so getan wird, als sei der NSU nur eine radikale Kleinstgru­ppe ideologisc­h Verblendet­er. Auch die weiträumig­en Ermittlung­en der für die Aufklärung der Verbrechen zuständige­n Behörden und die zum Teil intensiven Nachforsch­ungen von zwölf parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschü­ssen lösten nicht ein, was die Bundeskanz­lerin auf der Gedenkfeie­r für die Opfer im Februar 2012 versproche­n hatte. Man wolle, so Angela Merkel, »alles tun, um die Morde des rechtsextr­emen Trios aufzukläre­n, die Helfershel­fer und Hintermänn­er aufzudecke­n und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen«.

Bis heute bleiben wesentlich­e Fragen zum NSU und generell zur gewalttäti­gen rechtsextr­emistische­n Szene in Deutschlan­d und ihrer internatio­nalen Verflechtu­ng unbeantwor­tet. Laut glaubwürdi­gen Statistike­n sind Rechtsextr­eme hierzuland­e für mindestens 200 Morde seit 1990 verantwort­lich. Sicher ist: Zahlreiche Mitschuldi­ge an den Taten des NSU bleiben unbehellig­t. Derzeit laufen zwar noch Ermittlung­sverfahren gegen neun Verdächtig­e, doch da die nicht wegen Beihilfe zum Mord geführt werden, ist eine Verjährung greifbar. Geschont werden auch jene Sicherheit­sbehörden, Staatsanwa­ltschaften und Geheimdien­ste, die bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen versagt haben oder sie bewusst hintertrie­ben.

Die anfangs spürbare höhere Sensibilit­ät gegenüber rechtsextr­emistische­m Terror, die sich unter ande- rem im NPD-Verbotsant­rag zeigte, ist längst verebbt. Fremdenhas­s und die Relativier­ung von Nazi-Ungeist gehören seit dem politische­n Kraftzuwac­hs der AfD zum politische­n Alltag in Deutschlan­d. Von einem rechtsstaa­tlichen Lernprozes­s bei den deutschen Geheimdien­st- und Sicherheit­sbehörden kann keine Rede sein. Sie mauern weiter, halten mit Regierungs­unterstütz­ung Dokumente selbst vor zuständige­n Volksvertr­etern geheim. Der Verfassung­sschutz und Polizeibeh­örden hatten über 30 »Vertrauens­leute« im Umfeld des NSU-Trios platziert. Einige dieser vom Staat bezahlten Zuträger waren den drei Untergetau­chten sogar direkt behilflich. Doch das alles führte weder zur Verhinderu­ng der grausamen Verbrechen noch kam man so der Aufklärung näher. Trotz gegenteili­ger Beteuerung­en nach dem Auffliegen des NSU wurde die Arbeit der Dienste nicht transparen­ter und die parlamenta­rische Kontrolle nicht besser. Kaum Schlussfol­gerungen gab es auch im Bereich der weithin von Nachfragen unbehellig­t gebliebene­n Staatsanwa­ltschaften. Das zeigt sich unter anderem an deren »Unlust«, mysteriöse Todesfälle bei V-Leuten und mutmaßlich­en aussagewil­ligen Zeugen auszuleuch­ten.

Sicher ist, der NSU war nicht – wie oft behauptet – ein einmaliges Phänomen. Vergleichb­are Gruppierun­gen sind nachgewach­sen, wie ein im März beendeter Prozess gegen die sogenannte Gruppe Freital belegt. Sie hatte sich zusammenge­schlossen, um Anschläge auf Flüchtling­sheime und politische Gegner zu begehen. Nur dank glückliche­r Umstände gab es dabei diesmal noch keine Toten.

Nach fünf Jahren endet der NSU-Prozess in München mit den Urteilen gegen die fünf Angeklagte­n. Von einer umfassende­n Aufklärung des gesamten Falls kann allerdings nicht die Rede sein – zu viele Fragen blieben unbeantwor­tet, Verstricku­ngen unbeleucht­et. Die anfangs spürbare höhere Sensibilit­ät gegenüber rechtsextr­emistische­m Terror, die sich unter anderem im NPD-Verbotsant­rag zeigte, ist längst verebbt. Fremdenhas­s und die Relativier­ung von NaziUngeis­t gehören seit dem politische­n Kraftzuwac­hs der AfD zum politische­n Alltag in Deutschlan­d.

 ?? Fotos: dpa ?? Mehmet Turgut, ermordet 2004 Ismail Yasar, ermordet 2005 Theodoros Boulgaride­s, ermordet 2005 Mehmet Kubasik, ermordet 2006 Halit Yozgat, ermordet 2006
Fotos: dpa Mehmet Turgut, ermordet 2004 Ismail Yasar, ermordet 2005 Theodoros Boulgaride­s, ermordet 2005 Mehmet Kubasik, ermordet 2006 Halit Yozgat, ermordet 2006
 ??  ?? Enver Simsek, ermordet 2000 Abdurrahim Özüdogru, ermordet 2001 Süleyman Tasköprü, ermordet 2001 Habil Kilic, ermordet 2001 Michèle Kiesewette­r, ermordet 2007
Enver Simsek, ermordet 2000 Abdurrahim Özüdogru, ermordet 2001 Süleyman Tasköprü, ermordet 2001 Habil Kilic, ermordet 2001 Michèle Kiesewette­r, ermordet 2007
 ?? Foto: dpa/Peter Kneffel ?? Die Angeklagte Beate Zschäpe (2.v.r.) zwischen ihren Anwälten Wolfgang Stahl (l), Anja Sturm (2.v.l.) und Wolfgang Heer (r).
Foto: dpa/Peter Kneffel Die Angeklagte Beate Zschäpe (2.v.r.) zwischen ihren Anwälten Wolfgang Stahl (l), Anja Sturm (2.v.l.) und Wolfgang Heer (r).

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