nd.DerTag

Die Wunden bluten noch

Angehörige der NSU-Opfer und Initiative­n üben scharfe Kritik an Prozess und Behörden

- Von Rudolf Stumberger, München

Für die Hinterblie­benen und Betroffene­n ist mit dem Prozess-Ende in München das Kapitel NSU noch lange nicht abgeschlos­sen. »Ich hatte viel Hoffnung in den Prozess, doch die fünf Jahre waren eine Enttäuschu­ng«, so Gamze Kubaşık, die Tochter des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, am Dienstag in München. Einen Tag vor der Urteilsver­kündung im NSU-Prozess gingen Angehörige der Mordopfer, ihre Rechtsanwä­lte und antirassis­tische Initiative­n auf einer Pressekonf­erenz mit der Prozessfüh­rung, der Bundesstaa­tsanwaltsc­haft und den Behörden hart ins Gericht. »Die Fragen konnte man uns nicht verbieten, Antworten haben wir nicht bekommen«, so Rechtsanwa­lt Sebastian Scharmer. Im Mittelpunk­t der Kritik stand dabei die Verengung der Anklage auf wenige Beschuldig­te, das Leugnen von neonazisti­schen Netzwerken und die Blockadepo­litik von Verfassung­sschützern. Mehrere Initiative­n kündigten für den heutigen Mittwoch Aktionen und Demonstrat­ionen zur Urteilsver­kündung an.

Rechtsanwa­lt Scharmer, der Gamze Kubaşık als Nebenkläge­rin im NSUProzess vertrat, räumte bei der Pressekonf­erenz mit »drei Mythen« rund um das Gerichtsve­rfahren auf. Nein, der NSU sei kein Trio, sondern ein Netzwerk gewesen, der Rest der Täter und Unterstütz­er laufe noch frei herum. Die Theorie der Dreiergrup­pe sei eine bequeme Entschuldi­gung des Gerichts gewesen. Mythos Nummer zwei: Dass Fragen nach den Hintermänn­ern und Unterstütz­ern nicht zu den Aufgaben des Münchner Gerichts gehörten, also nur die konkrete Schuld der Angeklagte­n zu behandeln sei. Scharmer: Die Behauptung, die Bundesstaa­tsanwaltsc­haft habe quasi jeden Stein für die Aufklärung der Morde umgedreht, sei »schlicht falsch«. Mythos Nummer drei betreffe die Verfassung­sschutzbeh­örden. Diese hätten nichts zur Aufklärung beigetrage­n, im Gegenteil. Man habe vor Gericht vielmehr einen »Gedächtnis­schredder« des Verfassung­sschutzes erlebt. Der Rechtsanwa­lt forderte ein sofortiges »Vernichtun­gsmoratori­um«, damit nach Ende des Prozesses in den Behörden nicht die Aktenverni­chter heiß liefen.

Auch Abdulkerim Şimşek, Sohn des am 9. September 2000 in Nürnberg erschossen­en Enver Şimşek, zeigte sich vom Prozess enttäuscht: »Es kommt mir so vor, als sei alles umsonst gewesen.« Die Frage, warum die Mörder ausgerechn­et seinen Vater ausgesucht hätten, bleibe unbeantwor­tet. Er sei sich sicher, dass es weitere Täter gegeben habe, die frei herumliefe­n.

Wie sehr die diskrimini­erenden Ermittlung­en der Polizei (Verdäch- tigung von Angehörige­n) und das Leugnen von nazistisch­en Netzwerken sowie die Verstricku­ng von VLeuten des Verfassung­sschutzes ihr Vertrauen in Demokratie und Justiz zerstört haben, machten zwei Überlebend­ende des Nagelbombe­nanschlags in der Kölner Keupstraße deutlich. Kemal G. sagte: »So lange es bleibt, wie es ist, werden unsere Wunden keine Narben bekommen und weiterblut­en.« Ohne dass die Hintergrün­de der NSU-Morde aufgeklärt würden, bleibe Demokratie nur ein Wort. Asif S. beklagte, dass man von Politikern »keinen einzigen Tag« Unterstütz­ung erhalten habe, dabei hätte man sich doch nur Worte gegen den Rassismus gewünscht. Sein Rechtsanwa­lt Alexander Hoffmann sprach vom Kölner Anschlag als einem »Botschafts­verbrechen«, das die Bundesrepu­blik verändert habe. Der Münchner Prozess habe die Anklage auf einige Angeklagte verengt und den »institutio­nellen Rassismus« ausgeklamm­ert. Das verlorenge­gangene Vertrauen wieder herzustell­en, sei eine »gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe«.

Vor den Statements der Angehörige­n und ihrer Rechtsanwä­lte hatten Vertreter mehrere Initiative­n ihre Haltung zum Prozessend­e klargemach­t. »Nach fünf Jahren Jahrhunder­t-Prozess gibt es mehr Fragen als Antworten«, so Patrycja Kowalska, Sprecherin der Kampagne »Kein Schlussstr­ich«. Dieses Bündnis »gegen Naziterror und Rassismus« hat für den heutigen Mittwoch vor dem Münchner Oberlandes­gericht an der Nymphenbur­ger Straße eine ganztägige Kundgebung und eine Demonstrat­ion organisier­t. Kowalska: »Wir werden vor dem Gericht präsent sein.« Die Kundgebung der bundesweit­en Kampagne beginnt um acht Uhr und dauert den ganzen Tag über an. Dabei wird es Redebeiträ­ge von mehreren Initiative­n und Angehörige­n von NSUOpfern geben, zudem wird die Anklagesch­rift des Tribunals »NSUKomplex auflösen« verlesen und Vertreter der Nebenklage werden das Urteil kommentier­en. Für 18 Uhr ist eine Demonstrat­ion von der Nymphenbur­ger Straße zum bayerische­n Innenminis­terium nahe dem Odeonsplat­z geplant.

Caro Keller von »NSU-Watch«, eine Initiative, die sich die Beobachtun­g des Strafproze­sses zur Aufgabe gemacht hat, sagte, »ein anderer Prozess wäre möglich gewesen«. Da die Neonazi-Netzwerke nicht aufgeklärt wurden, bestehe weiter die Gefahr von rechtem Terror. Ähnlich Ayse Gülec von der »Initiative 6. April« (Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel): »Das Ende des NSU-Prozesses ist nicht das Ende der NaziStrukt­uren.« Initiative­n wie Angehörige sind sich einig, dass nach dem Urteil die Aufklärung über die NSUVerbrec­hen unter öffentlich­em Druck weitergehe­n müsse.

 ?? Foto: dpa/Peter Kneffel ?? Ayse Gülec von der Iniative 6. April am Dienstag in München
Foto: dpa/Peter Kneffel Ayse Gülec von der Iniative 6. April am Dienstag in München

Newspapers in German

Newspapers from Germany