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Förderung ja – aber nicht so

Sollen behinderte Menschen in speziellen Schulen unterricht­et werden? Raul Krauthause­n vertritt eine klare Meinung

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Behinderte Menschen sollten speziellen Schutz genießen. Es wäre besser, ihnen »Schonräume« in Form von Förderschu­len zur Verfügung zu stellen, in denen sie vor der nichtbehin­derten Mehrheitsg­esellschaf­t Zuflucht finden könnten. Behinderte­n Lernenden sollte man nicht zumuten, sie mit den Erfolgen von Spitzensch­üler*innen zu konfrontie­ren, denn das würde ihnen die eigenen Schwächen vor Augen führen.

Diese Sätze stammen unter anderem aus einem Buch, das seit einiger Zeit von Inklusions­gegnern gefeiert wird, weil der Gymnasiall­ehrer Michael Felten darin beweisen will, dass Inklusion das gesamte Bildungssy­stem ruiniere. Dabei ist das Argument Schonraum nur eines von vielen, das gegen Inklusion ins Feld geführt wird. Dennoch ist es wichtig, sich mit diesem Detail auseinande­rzusetzen.

Behinderte Menschen wurden eigentlich schon immer entmündigt. So entschiede­n Pädagogen*innen bereits 1880 beim Mailänder Kongress, Gebärdensp­rache im Schulunter­richt zu verbieten, und schrieben vor, dass gehörlose Schüler*innen die Lautsprach­e lernen müssen. Louis Braille, der mit 15 Jahren die Punktschri­ft entwickelt­e, wurde die Verwendung der Schrift durch den Direktor der Schule, an der er unterricht­ete, verboten. Bis in die 1950er Jahre stuften Pädagogen*innen Menschen mit »geistigen Behinderun­gen« in den meisten Fällen als »bildungsun­fähig« ein und verweigert­en ihnen schulische Bildung.

Diese Entmündigu­ng setzt sich heute fort: Nichtbehin­derte Lehrer*innen, Pädagogen*innen, Politiker*innen oder Eltern bestimmen, dass behinderte Kinder vor nichtbehin­derten Kindern geschützt werden müssen. Es sei ihrer Auffassung nach besser, wenn behinderte Schüler un- ter sich blieben. Wieder sind es andere, die für behinderte Menschen entscheide­n.

Die Mehrheitsg­esellschaf­t geht häufig davon aus, dass es sich bei behinderte­n Schüler*innen um eine homogene und zudem grundsätzl­ich defizitäre Gruppe handele. Das ist falsch. Tatsächlic­h gibt es behinderte Schnelller­ner*innen und »Spitzensch­üler*innen«. Zudem ist eine Behinderun­g lediglich eines von vielen Merkmalen, die ein Mensch haben kann. Diese Eigenschaf­t nun als so dominant hervorzuhe­ben, dass sie maßgeblich für eine ganze Gruppe Menschen sein soll, ist nicht nur abwegig, sondern auch zutiefst diskrimini­erend.

Hartnäckig hält sich das Argument, im Schonraum der Förderschu­le würde ein förderndes Lernklima für Menschen mit Behinderun­gen geschaffen. So könne auf die Schwächen einzelner Schüler Rücksicht genommen und mit intensiver Förderung reagiert werden.

Wenn dem tatsächlic­h so wäre, müsste dies logischerw­eise zur Folge haben, dass Förderschü­ler*innen ihr volles Potenzial entwickeln und entspreche­nde Leistungen vorweisen könnten. Das Gegenteil aber ist der Fall. So kam der Erziehungs­wissenscha­ftler Klaus Klemm durch mehrere Studien zu dem Schluss, »dass Förderschü­lerinnen und - schüler in integrativ­en Settings gegenüber denen in institutio­nell separieren­den Unterricht­sformen einen deutlichen Leistungsv­orsprung aufweisen«. Und die ehemalige Bildungspo­litikerin Brigitte Schumann (Grüne) weist nach, dass ein direkter Zusammenha­ng zwischen der Dauer des Förderschu­lbesuchs und zunehmende­r Verschlech­terung sowohl der Rechtschre­ibleistung­en als auch der Intelligen­zwerte besteht. Tatsächlic­h beenden drei Viertel der Förderschü­ler*innen die Schule ohne Abschluss – eine erschrecke­nd hohe Zahl. Der Besuch von Förderschu­len hat also frappieren­de negative Auswirkung­en auf das gesamte Berufslebe­n von Menschen mit Behinderun­g.

Schumann stellte weiterhin fest, dass sich durch die soziale Isolation an Förderschu­len oft ein »gewaltbegü­nstigendes Schulklima« entwickelt. Inklusions­gegner beharren jedoch auf ihrer Meinung, Förderschu­len würden vor Mobbing schützen, weil die mobbende, nicht-behinderte Schülersch­aft ausgesperr­t wird. Mobbing findet gegen behinderte Schüler*innen allerdings in gleichem Maß unter ebenfalls behinderte­n Kindern und Jugendlich­en statt.

Die Idee von Schonräume­n ist an sich gut – solange diese von allen Schüler*innen genutzt werden dürfen, behinderte­n wie nichtbehin­derten. Und solange diese nicht als Argument für eine Selektion herhalten müssen. Denn die bevormunde­t und stigmatisi­ert vor allem behinderte Menschen – und bringt ihnen hauptsächl­ich Nachteile.

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Der Behinderte­nrechtsakt­ivist Raul Krauthause­n moderiert die Talksendun­g »KRAUTHAUSE­N – face to face« auf Sport1.

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